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Die Heilige Schrift im Leben der Kirche. Internationaler Kongress «40 Jahre Dei Verbum»   

Dieter Bauer, SKZ 46/2005

Die zentrale Bedeutung der Bibel für Kirche und Welt erneut ins Bewusstsein gerufen zu haben, gehört zu den wichtigsten Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962– 1965). Entscheidenden Anteil daran hatte die dogmatische Offenbarungskonstitution Dei Verbum(«Wort Gottes»), ein Dokument, das nach jahrelangen Vorarbeiten und Diskussionen am 18. November 1965 als einer der letzten Konzilstexte verabschiedet wurde. Der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper spricht in diesem Zusammenhang von einem Text, der «zu einem wachsenden Bewusstsein über die Bedeutung der Heiligen Schrift geführt hat, eine Pastoral der Bibel förderte und der wissenschaftlichen Bibelforschung neue Impulse gab».

Internationaler bibelpastoraler Kongress in Rom über 40 Jahre «Dei Verbum»
Aus Anlass des 40jährigen Jubiläums von Dei Verbumveranstalteten deshalb die Katholische Bibelföderation (KBF) mit ihrem Präsidenten Bischof Vincenzo Paglia und der Päpstliche Rat zur Förderung der Einheit der Christen unter seinem Präsidenten Kardinal Walter Kasper gemeinsam einen internationalen bibelpastoralen Kongress in Rom unter dem Motto «Die Heilige Schrift im Leben der Kirche: 40 Jahre Dei Verbum». Die KBF, eine internationale Organisation mit mehr als 300 Mitgliedsinstitutionen in 127 Ländern, wurde nach dem Konzil von Papst Paul VI. gegründet, um die weltweite Bibelpastoral im katholischen Bereich zu fördern und zu koordinieren. Über 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 98 Ländern nahmen an diesem Kongress teil, der vom 14. bis 18. September 2005 im Aurelia Convention Center stattfand. Neben zahlreichen Kardinälen und Bischöfen waren es vor allem Organisationen, Bewegungen und Einzelpersonen, die sich in unterschiedlichster Weise in den Bereichen Bibelarbeit, Bibelübersetzung oder Bibelwissenschaft engagieren. Auch Repräsentanten anderer Kirchen, kirchlicher Gemeinschaften und Religionsgemeinschaften waren geladen.

Das Programm
Insgesamt 18 Podiumsveranstaltungen und Diskussionsforen beschäftigten sich mit aktuellen Fragen der Bibelpastoral. Schwerpunkte waren dabei unter anderem: Exegese, Katechese und Liturgie, Themen der Ökumene und des interreligiösen Dialogs mit Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus, die Herausforderungen durch Sekten und das wachsende Problem des Fundamentalismus, die Frage religiöser Werte in einem säkularisierten Umfeld und das Thema Gerechtigkeit und Frieden in einer globalisierten Welt. Parallel zum Kongress fand eine Ausstellung «Ut Dei Verbumcurrat: Auf dass Gottes Wort seinen Lauf nehme» statt, bei der etwa 30 bibelpastorale Organisationen Materialien und Informationen rund um die Bibel präsentierten – von Bibelübersetzungen, Fachbüchern und Zeitschriften über Kursprogramme und Ausbildungsmodelle bis hin zu Materialen für Internet, Radio und Fernsehen. Einen weiteren interessanten Programmpunkt bildete das Forum «Kreative Zugänge zur Bibel», das Einblicke in die Vielfalt der praktischen Bibelarbeit in aller Welt bot. Im Forum wurden innovative Konzepte und erfolgreiche Bibel-Projekte vorgestellt, konnten neue Ideen ausgetauscht und internationale Kontakte geknüpft werden. Gemeinsame Gottesdienste und kulturelle Veranstaltungen rundeten das umfangreiche Programm ab.

Hauptredner des Kongresses waren Kardinal Walter Kasper, der frühere Mailänder Erzbischof Kardinal Carlo Maria Martini und Erzbischof John Onaiyekan, Vorsitzender des Rates der Afrikanischen Bischofskonferenzen. Daneben waren mehr als 50 international renommierte Fachleute als Referenten beteiligt.

Mehr noch als ein Rückblick auf die vergangenen 40 Jahre sollte der Dei Verbum-Kongress Standortbestimmung und kritische Bestandsaufnahme sein. Er bot Gelegenheit, zentrale Fragen und Herausforderungen zu diskutieren, denen sich eine von der Bibel inspirierte kirchliche Pastoral im 21. Jahrhundert zu stellen hat – vor dem Hintergrund der innerkirchlichen Situation, im Hinblick auf den ökumenischen Dialog, im Kontext unterschiedlicher Kulturen und Religionen, im Dialog mit Gesellschaft und Welt. Zudem wollte er eine Plattform sein für den internationalen Austausch über einen zeitgemässen Umgang mit der Bibel und die weitere Entwicklung der Bibelarbeit.

Herausforderungen und Perspektiven für Mitteleuropa
Für Mitteleuropa hatte ich selbst für die Arbeitsgemeinschaft Mitteleuropäischer Bibelwerke (AMB) Gelegenheit, Herausforderungen zu benennen, welchen sich die in der Bibelpastoral Tätigen ausgesetzt sehen:

1. Herausforderung: Die Vermittlung der Ergebnisse heutiger historisch-kritischer Exegese

Der heutige Papst Benedikt XVI. hatte in seinem damals viel beachteten Kommentar zu Dei Verbum(DV) geschrieben: «Sicher ist nur, dass es keinen Weg mehr an der historisch-kritischen Methode vorbei gibt und dass sie gerade als solche einem Anspruch der Sache der Theologie selbst entspricht.» Zwar hat sich die Exegese in diesen 40 Jahren kräftig weiterentwickelt. Und vieles hat selbstverständlich Eingang in die theologische Ausbildung gefunden: Doch hat man vielfach den Eindruck, dass trotz intensivster Bemühungen um eine Vermittlung der Ergebnisse heutiger historisch-kritischer Exegese bei vielen Menschen wenig davon angekommen ist. Da stehen wir mit unserer Aufgabe als Bibelwerke immer noch ganz am Anfang.

2. Herausforderung: Die Bedeutung der Heiligen Schrift im Gottesdienst

In Dei Verbumfindet sich die Formulierung: «Die Kirche hat die heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht» (DV 21). Deutlicher lässt sich die Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche kaum zum Ausdruck bringen. Zwar kann man inzwischen sagen, dass der «Tisch des Wortes» nach der neuen Perikopenordnung des Konzils reichlicher gedeckt wurde. Und auch die Homilien in den Gottesdiensten sind biblischer geworden. Denn die Exegese hat in der theologischen Ausbildung ein grösseres Gewicht bekommen: Doch: Der «Tisch des Wortes» hat längst nicht dieselbe Bedeutung wie der «Tisch des Brotes». Noch immer ist für viele Gläubige ein Wortgottesdienst kein wirklicher Gottesdienst. Ein schlecht vorgetragenes Evangelium oder eine schlechte, weil unbiblische Auslegung des Evangeliums scheint dagegen weit weniger Probleme zu bereiten. Auch hier gibt es noch viel zu tun an Bewusstseinsbildung – nicht nur an der Basis.

3. Herausforderung: Die Bedeutung des Wortes Gottes für die Welt

Ein Leitmotiv von Johannes XXIII. zur Einberufung des II. Vatikanischen Konzils war das «aggiornamento». Der Papst wollte die Kirche «an den Tag heranführen». Er wollte sie auf die Fragen der Gegenwart einstellen, die Kirche der Welt öffnen, die Welt der Kirche öffnen. Dies betrifft in besonderer Weise auch die Verkündigung des Wortes Gottes in diese Welt. Zwar hat sich die Kirche inzwischen in vielem der Welt geöffnet. Und die Bibel liegt inzwischen in unzähligen Neuübersetzungen in die Landessprachen vor: Doch: Die Botschaft der Bibel ist längst nicht in dieser Welt angekommen. Die Übersetzungsarbeit der Botschaft in diese Welt, in den oft nichtchristlichen und scheinbar gottlosen Alltag ist längst nicht gelungen. Dazu bedarf es vieler weiterer Anstrengungen, Ideen und Visionen.

Welche Perspektiven ergeben sich aus diesen Herausforderungen?

Ich möchte dies in 6 Thesen mit entsprechenden Handlungsimpulsen entwickeln:

1. These: Die Inhalte der dogmatischen Konstitution

Dei Verbumsind noch immer viel zu wenig bekannt. Das heisst: Es genügt nicht, den Text von Dei Verbummit guten Kommentaren zu veröffentlichen, er muss auch an die Basis vermittelt werden. So haben sich zum Beispiel in Tschechien tausende von Katholiken jahrelang mit den Thesen von Dei Verbumbeschäftigt um sich auf die Synode der tschechischen Kirche vorzubereiten. Und in der Slowakei wurde Dei Verbumzum Pflichtstoff für Studenten der Theologie gemacht.

2. These: Die Berücksichtigung der Ergebnisse der historisch- kritischen Methode der Bibelauslegung ist zwar eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis der Heiligen Schrift. Die Ergebnisse sind aber nicht mit der Botschaft der Bibel selbst gleichzusetzen.

Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen bedarf es nach wie vor grosser Anstrengungen, vor allem innerhalb unserer Kirchen selber, die biblischen Schriften als «Menschenwort» ernst zu nehmen und zu erforschen. Dabei führt kein Weg hinter die Ergebnisse historisch-kritischer Bibelauslegung zurück. Zweitens aber heisst ein Ernstnehmen der Bibel als «Gotteswort », dass nicht nur historisch-kritisch gefragt werden soll. Diese Methodik muss ergänzt werden durch erfahrungsbezogene, kreative Methoden der Bibelarbeit. Und auch meditative Zugänge zum Wort Gottes wie etwa die «lectio divina» müssen ihren Platz haben.

3. These: Die Bibelwissenschaft führt an vielen Orten immer noch ein Dasein im «Elfenbeinturm» der Universitäten, während selbst Theologinnen und Theologen an der Basis Mühen mit der Vermittlung der Ergebnisse dieser Forschung haben.

Daraus ergibt sich: Bibelwissenschaftliche Forschung muss in Zukunft viel enger verzahnt werden mit der Bibelpastoral. Das kann geschehen durch die Schaffung von bibelpastoralen Instituten an den Fakultäten wie etwa in Zagreb (HR). Oder Bibelwissenschaftler werden verpflichtet, auch in der Pastoral mitzuarbeiten. Nur so kann der Graben zwischen Universitätswissenschaft und pastoralem Alltag überbrückt werden.

4. These: Der «Tisch des Wortes» ist zwar durch die Einführung der drei Lesejahre reichlicher gedeckt. Doch weist die Leseordnung noch immer grosse Defizite auf, vor allem beim Alten Testament.

Das heisst: Weil dem Alten Testament bei der Auswahl der Texte kein eigenes Gewicht gegeben wurde, sondern einzig in Bezug auf die Evangelientexte geschah, kommt es, dass wichtige alttestamentliche Texte völlig fehlen.

Das hat aber zur Folge, dass wichtige (und teilweise höchst aktuelle) Lebensfragen auf diese Weise im Gottesdienst kaum angesprochen werden. Hier gibt es einen grossen Änderungsbedarf. Vorschläge von vielen Exegeten und auch praktischen Theologen liegen seit Jahren vor.

5. These: Obwohl in Dei Verbumformuliert wurde, dass «die Kirche ... die heiligen Schriften immer verehrt (hat) wie den Herrenleib selbst», hat der «Tisch des Wortes» noch längst nicht die selbe Bedeutung erhalten wie der «Tisch des Brotes».

Daraus ergibt sich: Wir sollten darauf drängen, dass in jeder Eucharistiefeier – in jedem Wortgottesdienst sowieso – die Heilige Schrift auch den ihr zustehenden Raum erhält. Möglichkeiten wären:

a) eine stärkere Förderung der biblischen Predigt durch die für die Liturgie Verantwortlichen – angefangen bei der römischen Kongregation für die Liturgie bis hin zu den Liturgischen Instituten der Länder.

b) Die Betonung der Einheit der Heiligen Schrift aus Altem und Neuem Testament: Warum setzen sich die Gläubigen im Gottesdienst zur alttestamentlichen Lesung? Auch sie ist Heilige Schrift! Und warum geht in der Osternacht das Licht in unseren Kirchen erst beim «Gloria» an? Bei der Verlesung der Schöpfungsgeschichte heisst es laut und deutlich: «Es werde Licht»!

c) Ein Desiderat ist immer noch die Einführung eines kirchlichen «Bibelsonntags» – vergleichbar dem jüdischen Fest der «Tora-Freude» (Simchat Torah). Dadurch würde vielen Gläubigen das Wort Gottes viel intensiver bewusst und erfahrbar.

6. These: Die Botschaft der Bibel ist nicht nur in unseren Kirchen noch nicht wirklich angekommen. Noch viel weniger ist sie dies in der «Welt».

Das heisst: Wir müssen auch bei der Auswahl der Bibeltexte mutig einen Schritt weiter gehen und aus dem Kanon unserer Perikopenordnung ausbrechen. Machen wir uns doch neu auf die Suche. Es gibt auch in unseren Heiligen Schriften Texte, die genau in unsere Zeit hineinsprechen, weil sie in ähnlicher Situation entstanden sind. Ich denke dabei zum Beispiel an das Buch Ester oder das Buch der Weisheit. Dort wird die Anwesenheit und Wirkung Gottes in einer scheinbar gottlosen Welt bezeugt und wird trotzdem die gegenseitige kulturelle und religiöse Verständigung inspiriert.

Wenn wir es schaffen, die Bibel so auszulegen, dass sie wirklich Lebenshilfe ist, dass sie tröstend, aufmunternd, aber auch widerständig und kritisch in unsere Lebenssituation hineinspricht, dann kann unsere Kirche auch wieder missionarisch in diese «Welt» hinein wirken.

Diskussion und Schlusszusammenfassung
Leider bot der Aufbau des Kongresses, der den Schwerpunkt stark auf Referate und weniger auf Arbeitsgruppen und Austauschrunden gelegt hatte, nur in geringem Masse die Möglichkeit zur Diskussion solcher Thesen. Die Rückmeldungen aus dem Plenum waren allerdings durchweg positiv, und die Ergebnisse haben dann auch Eingang gefunden in die kurze «Schlusszusammenfassung» (engl. synthesis). Dort wurden die Früchte, die Dei Verbumweltweit getragen hat, aber auch die Herausforderungen und Perspektiven, die für andere Länder und Kontinente oft sehr viel anders aussehen, benannt. Diese «Schlusszusammenfassung» wird in absehbarer Zeit auf der Homepage der KBF nachzulesen sein, wo sich auch die Hauptbeiträge und Ansprachen des Kongresses finden (www.deiverbum2005. org).

Audienz bei Papst Benedikt XVI.
Ein Höhepunkt des Kongresses war der feierliche Gottesdienst am Hauptaltar von St. Peter mit anschliessender Privataudienz bei Papst Benedikt XVI. in seiner Sommerresidenz Castel Gandolfo. Als junger Theologe war der damalige Dogmatikprofessor Josef Ratzinger als theologischer Berater des Kölner Kardinals Frings aktiv an den intensiven Beratungen über Dei Verbumbeteiligt. Sein bis heute massgeblicher Kommentar zu Dei Verbumerschien bereits kurz nach Beendigung des Konzils im «Lexikon für Theologie und Kirche». Er gab den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit auf den Weg: «Die Kirche weiss, dass Christus in den Heiligen Schriften lebt. Deshalb hat sie die göttlichen Schriften – wie die Konstitution unterstreicht – immer verehrt wie den Herrenleib selbst. Und in eben diese Richtung zielt das so treffende Wort des heiligen Hieronymus, das vom Konzilsdokument zitiert wird: Die Schrift nicht kennen heisst Christus nicht kennen. Kirche und Wort Gottes sind untrennbar miteinander verbunden. Die Kirche lebt das Wort Gottes und das Wort Gottes findet Widerhall in der Kirche, in ihrer Lehre und in ihrem ganzen Leben. (...) Die Kirche muss sich immer wieder erneuern und verjüngen, und das Wort Gottes, das nicht altert und nie versiegt, ist dazu das beste Mittel.»

Dieter Bauer