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Erinnere Dich!   

Katharina Schmocker zur Lesung am 28. Sonntag im Jahreskreis: 2 Tim 2,8–13, SKZ 39/2013

 

Gedenke! So hiess ein Abendkurs des Zürcher Lehrhauses zur Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933. Unter dem Titel «erinnern» steht die neueste Ausgabe der Zeitschrift «Lamed»,1 deren Schwerpunkt ein Rückblick auf Sophie Scholl und die Widerstandsbewegung «Die Weisse Rose» ist. Schamvolle Erinnerungen. An den Mut der Mitglieder der «Weissen Rose» stellvertretend für alle im Widerstand zu denken, lässt allerdings auch Hoffnung keimen und Dankbarkeit aufblühen, dass diese jungen Menschen die Indoktrination durchschaut, der Angst und dem Terror getrotzt haben. Wenn es ihnen unter diesen Umständen gelang, muss es auch in weniger ausweglosen, weniger bedrohlichen Situationen möglich sein.

Der zweite Brief an Timotheus im jüdischen Kontext

Gedenke! Mit dieser Aufforderung beginnt der Text der Lesung. Die jüdische Religion ist geprägt vom Wachhalten der Erinnerungen. Bitter ist natürlich der Nachgeschmack der Judenverfolgungen, die in der Schoa ihren schrecklichen Höhepunkt fanden. Daneben aber steht die grosse unvergessliche Heilstat Gottes, die Befreiung aus Ägypten, aus der Knechtschaft, und die Hinführung ins verheissene Land, derer nicht nur an Pessach und Sukkot gedacht wird, sondern auch an jeder Sabbatfeier im Kiddusch. «Es gehört zur Dankbarkeit des Glaubens, an das vergangene Heilshandeln Gottes, an seine Werke und Wunder zu denken; in diesem Sinn kehrt die Mahnung mnämoneue (gedenke) bzw. mnämoneuete (gedenkt) mehrfach wieder. Dies Gedenken ist Lobpreis und Bekenntnis zugleich …»2 Dazu fordert bereits Mose auf, noch bevor das Volk Israel durch das Schilfmeer gezogen und damit wirklich in Sicherheit war: «Mose sagte zum Volk: Denkt an diesen Tag, an dem ihr aus Ägypten, dem Sklavenhaus, fortgezogen seid, denn mit starker Hand hat euch der Herr von dort herausgeführt» (Ex 13,3).

Doch nicht nur die Erinnerung an die Befreiung soll stets dankbar wachgehalten werden, sondern auch die Erfahrungen der Sklavenzeit sollen nicht vergessen werden. Es geht dabei nicht darum, sie selbstquälerisch zu beklagen. Das Wissen darum, wie es ist bzw. war, Sklave oder Sklavin zu sein, soll vielmehr das eigene Handeln, die eigene Haltung gegenüber Unterlegenen in die richtige lenken. So schliessen z. B . die Gesetze zum Recht von Fremden, Witwen und Waisen oder das Verbot der Nachlese mit der Ermahnung: «Denk daran: Du bist in Ägypten Sklave gewesen. Darum mache ich es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten » (Dtn 24,17 f.20–22).

Die Erinnerung an die Heilstaten Gottes in der Geschichte Israels und an diese selbst wird im Kiddusch am Sabbat ergänzt und umfasst vom Gedenken daran, dass Gott die grundsätzliche Bedingung zur Möglichkeit menschlichen Lebens erwirkt hat, vom dankbaren Gedenken an die Schöpfung und deren Vollendung im Sabbat. An diesem Gedenken könn(t)en alle Menschen teilhaben.

Doch nicht nur den Menschen wird die bleibende Erinnerung angemahnt. Gott wird sich seinerseits seines Bundes erinnern, wenn Israel sich seine Schuld eingesteht und sich ihm wieder zuwendet: «Dann werde ich meines Bundes mit Jakob gedenken, meines Bundes mit Isaak und meines Bundes mit Abraham, und ich werde meines Landes gedenken» (Lev 26,42.45). Und Gott setzt sich selbst nach der Sintflut den Bogen in den Himmel: «… so werde ich auf ihn sehen und des ewigen Bundes gedenken zwischen Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde» (Gen 9,16).

Heute mit 2 Tim im Gespräch

Auch der Lesungstext steht unter dem zweifachen Aspekt der Erinnerung an die allgemeine Heilsgeschichte und die spezifische des Volkes Israel. Timotheus wird aufgefordert, an das Evangelium zu denken, das Paulus verkündete. Dabei wird einerseits herausgegriffen, dass Christus von den Toten auferweckt wurde, was allen Menschen die Hoffnung auf die Auferstehung gibt. Andererseits wird Jesus als «aus dem Samen Davids» in die Heilsgeschichte Israels eingebunden. Gerade diese Kombination lässt auch erkennen, dass sich im mnämoneuo Erinnerung, Dankbarkeit und Hoffnung, somit also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereinen. Denn was soll Erinnerung bringen, wenn sie uns nicht dazu verhilft, die Gegenwart sinnvoll zu gestalten, um einer besseren Zukunft entgegenzugehen? Aus der Lesung wird aber ebenso deutlich, dass Erinnerung allein dazu nicht reicht. Es bedarf unseres vollen Einsatzes und unseres unverminderten Glaubens, dass wir uns nicht lediglich an (biblische) Geschichten erinnern, sondern mit diesen Geschichten an Entwicklungen, die unser Dasein im Hier und Heute herbeigeführt haben und es weiter beeinflussen. Auf dieser Grundlage müssen wir aufbauen und sowohl unser Leben leben als auch gestaltend auf unsere Umgebung einwirken – was wir so oder so gar nicht verhindern können. Also gehen wir es doch lieber gezielt an, wohl wissend, dass wir Fehler machen werden, die Folgen, vielleicht sogar schlimme, haben werden, aber auch im Bewusstsein, dass wir uns immer wieder besinnen und erneut das Gute erstreben können und sollen. Ausser das «mit Christus gestorben» stehen alle Verben in den Versen 12 und 13 im Futur. Mit Christus gestorben sein ist also eine Voraussetzung der Argumentation. In paulinischer Tradition sind wir mit Christus aber nicht etwa dem Leben, sondern der Sünde gestorben. Das erst ermöglicht Zukunft, und Zukunft ist immer offen, jedenfalls was unseren Anteil daran betrifft. Gewiss ist, dass Gott uns treu bleibt, denn das Einzige, was ihm unmöglich ist, ist, sich selbst zu verleugnen, indem er sich von seinen Geschöpfen abwendet.