Wir bringen die Bibel ins Gespräch

«Wir erwarten seine Wiederkunft»   

Peter Zürn zum 1. Advent im Pfarrei-Forum St. Gallen 16/2011

Als der jüdische Schriftsteller Jonathan Rosen acht Jahre alt war, fragte er seinen Vater und seine Mutter: «Wünschst du dir, dass der Messias kommt?» Sein Vater dachte sorgfältig nach und sagte: «Ja.» Seine Mutter antwortete: «Nein. Ich mag das Leben so wie es ist.» Schön, in einer Familie aufzuwachsen, in der solche Fragen gestellt und ernsthaft beantwortet werden. Als Erwachsener verstand Jonathan Rosen, warum seine Eltern so unterschiedlich geantwortet hatten. Sein Vater war in den dreissiger Jahren in Wien aufgewachsen und hatte in der Shoah Eltern, Verwandte und Heimat verloren. Er wünschte sich noch eine radikale Veränderung der Welt, die Auferstehung der Toten und das Gericht über die Gewalttäter. Seine Mutter wuchs gut behütet in wohlhabenden Verhältnissen in New York auf. Sie wünschte sich keineandere Welt, sondern mehr von dieser. Schön, in einer Familie und Religion zu leben, in der beide Wünsche miteinander leben können. Für die Rosens ist das Judentum eine solche Religion. Als Christinnen und Christen gehören wir zur Familie. Ich stelle mir ein Familientreffen mit den Rosens vor. Mit Mutter Rosen würde mich verbinden, dass wir nicht auf den Messias warten. Wir würden uns erzählen, was wir an der Welt lieben, so wie sie ist. Wir würden sie Gottes gute Schöpfung nennen, wir würden vielleicht sogar gemeinsam mit dem Juden Jesus sagen, dass das Reich Gottes gekommen
ist. Mit Vater Rosen wäre ich einig, dass wir auf die Erlösung der Welt warten. Sehnsüchtig warten, angesichts all der Gewalt und des Leids unserer Geschichte. Es wäre nicht leicht für mich als Deutscher und Christ neben ihm, dem Juden, zu sitzen. Ich wünschte mir sehr, mit
ihm zusammen klagen, trauern und – trotz allem – hoffen zu können: auf Gottes Macht, die löst, worin wir unheilbar verstrickt sind und (auf-)richtet, was Menschen zer- und verbrochen haben.

Schon und noch nicht

Wenn Jonathan Rosen mich fragen würde, ob ich an das Kommen des Messias glaube, würde ich ihm die Antwort seines Vaters und seiner Mutter geben: Nein und Ja zugleich. Nein, denn ich glaube, dass das Reich Gottes und der Messias schon da, die Welt schon verwandelt ist. Verwandelt zu dem, was sie immer schon war: Gottes gute Schöpfung. Ja, denn die Welt schreit nach Erlösung. Heute angesichts der Klimakatastrophe wirklich die ganze Welt. Ja und Nein zugleich: Ein Widerspruch, aber vielleicht die angemessene Art und Weise, vom Leben in dieser Welt zu sprechen. Im christlichen Glaubensbekenntnis ist es so ausgedrückt: Wir glauben an Jesus, den Messias, und wir erwarten seine Wiederkunft. Wir freuen uns an dem, was schon ist und sehnen uns nach dem, was noch nicht ist. Wir vertrauen in das Leben in dieser Welt und wir hoffen sehnsüchtig für das Leben auf dieser Welt, denn ohne diese Hoffnung müssten wir wohl verzweifeln. «Dass man in der Welt Vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien ‹die Frohe Botschaft› verkünden: «Uns ist ein Kind geboren.» Das schreibt die jüdische Philosophin Hannah Arendt – ein weiterer Gast am jüdisch-christlichen Familientreffen. Uns ist ein Kind geboren – die Botschaft des Weihnachtsfestes. Was uns Vertrauen ins Leben und Hoffnung gibt, ist da; zart und schutzbedürftig, aber da – menschgeworden mitten unter uns. Es ist gut, sich daran Jahr für Jahr zu erinnern und das zu feiern. Es ist auch gut, es Jahr für Jahr neu hoffnungsvoll zu erwarten, denn selbstverständlich ist die Geburt eines Kindes nicht. Der Advent dient uns dazu, in Erwartung zu bleiben. Für das, was schon ist und für das, was noch nicht ist.

Die Niederkunft und die Wiederkunft

Wie wird diese Wiederkunft sein? Kein Mensch weiss es. Viele Bilder gibt es. Eines davon, ein biblisches Bild, ist der Menschensohn, der auf den Wolken des Himmels herabkommt. Die Evangelien und die Offenbarung des Johannes benutzen es. Sie haben es vom Propheten Daniel übernommen (die christliche Bibel ist die erste Form des jüdisch-christlichen Familientreffens). Hebräisch heisst Menschensohn Ben-Adam. Adam meint die Menschheit als Ganzes. Der Menschensohn ist also ein einzelner Mensch, der zur gesamten Menschheit gehört, so wie die Benei-Jisrael einzelne Menschen, Frauen und Männer, sind, die zum Volk Israel gehören. Die christliche Tradition hat den «Menschensohn» als Titel für Jesus Christus und als Bild für seine Wiederkunft verwendet. Die Wiederkunft ist also auch eine Niederkunft. Es kommt auf den Wolken des Himmels ein Mensch zur Welt, der mit der ganzen Menschheit verbunden ist. Sein Name, biblisch der Ausdruck seines Wesens, verbindet ihn mit der Menschheit. Das ist das Bild für die erwartete Erlösung der Welt. Das sehen und erkennen wir dann endlich: Jedes Kind ist ein wesentlicher Teil der Menschheit. Jedes einzelne ist wesentlich für alle. Jedes ist uns geboren. Das war immer schon so, aber wir übersehen es so oft. Keines wird verlorengehen. Darauf hoffen wir sehnsüchtig.

Informationen zum Menschensohn auf den Wolken des Himmels
Die wichtigste Stelle für das Bild vom Menschensohn steht beim Propheten
Daniel (7, 13–14). Im ganzen Kapitel wird eine Vision des Propheten wiedergegeben
und gedeutet, ab Vers 9 spielt sie in einer Art himmlischem Thronsaal. Darin
erscheint «mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn». Es handelt
sich dabei also um eine himmlische Figur in menschenähnlicher Gestalt,
vielleicht eine Art Engel. Die wichtigste Engelsgestalt im Buch Daniel ist Michael,
«der grosse Engelfürst, der für die Söhne deines Volkes», das heisst für
die Kinder Israels, eintritt (12, 1). Diese Gestalt bekommt Herrschaft, Würde
und Königtum. Alle Völker dienen ihm. Gedeutet wird das so: Im Himmel wird
voraus abgebildet, was auf Erden erhofft wird: die Würde und die Herrschaft
des Volkes Gottes (vgl. 7, 27). Das Neue Testament bezieht sich mehrmals
auf dieses Bild: Zum Beispiel im Evangelium des 1. Adventssonntags, Mk
13, 24–37 (vor allem im Vers 26) in einer Rede Jesu, und in der Offenbarung des
Johannes in einer Himmelsvision des Propheten (14, 14).
Das Gemeinsame dieser Bibelstellen ist, dass sie zur sogenannten Apokalyptik
gehören. Wir verbinden Apokalypse schnell mit Weltuntergang und
geheimen Vorhersagen. Das geht aber am Sinn der biblischen Texte vorbei.
Apokalypse heisst Offenbaren, Aufdecken. Die Apokalyptik will Verborgenes
aufdecken. Man kann sie durchaus mit Wikileaks vergleichen: Sie will aufdecken,
was die Mächtigen der Welt lieber verborgen halten wollen. Apokalyptik
will zeigen, welche Kraft und Macht wirklich in der Welt wirkt, auch wenn
der Augenschein dagegen spricht – die Macht des lebendigen Gottes nämlich.
Solche Texte entstehen in Zeiten der Krise, wenn die Menschen, die sich zum
Volk Gottes zählen, besonders bedrängt werden und Zuspruch und Hoffnung
brauchen. Es geht nicht um Angst und Untergang, sondern um Hoffnung. Nicht
um die Vorhersage des genauen Datums des Weltuntergangs – sondern um die
Zusage des Wirkens Gottes gestern, heute und morgen als Hoffnung in der
Bedrängung. (pz)

2023 | 2021 | 2018 | 2017 | 2016 | 2015 | 2014 | 2013 | 2012 | 2011 | 2010 | 2009 | 2008 | 2007 | 2005 | 2004 | 2003