Wir beraten

Josef und seine Brüder   

Nacherzählung als Handout

Josef: Das ist ein junger Mann in einer ziemlich komplizierten Familiensituation.
Eine Patchwork-Familie, wie sie im Buche steht.
Josef ist der zweitjüngste Sohn. Der Lieblingssohn seines Vaters.
Seine Mutter ist tot – gestorben bei der Geburt seines Bruders Benjamin.
Was Josef noch hat, das sind sein Vater und sein Bruder.
Und zudem: Drei Stiefmütter, zehn Halbbrüder und eine Halbschwester.
Sein Vater Jakob liebt Josef über alle Massen.
Seine anderen Söhne sind Jakob kaum mehr als Knechte.
Josef dagegen ist der Sohn seines Herzens.
Denn Josef ist der Sohn der einzigen Frau, die Jakob je geliebt hat – Rahel.
Auch Benjamin ist Rahels Sohn und Jakobs Liebling, aber der ist noch klein.
Die anderen Söhne haben das Nachsehen.
Sie hat Jakob mit anderen Frauen gezeugt:
Mit Rahels Schwester Lea, mit ihrer Magd Silpa, und auch mit Rahels Magd Bilha.
Wie es dazu kam, das ist eine andere verwickelte Geschichte.
Doch wie es halt so ist mit Familiengeschichten:
Auch wenn man nicht darüber spricht, wirken sie doch.
Gerade die bestgehüteten Familiengeheimnisse stiften das grösste Durcheinander
– bis einer kommt und ausspricht, was alle wussten oder zumindest ahnten,
aber niemand zu sagen wagte.
Meist gibt es dann einen grossen Knall. Ob es anschliessend besser wird oder nicht,
ob Heilung und Versöhnung möglich werden, das weiss man meistens erst hinterher.
Aber ein bisschen ehrlicher wird es wenigstens.
Als es in Jakobs Familie zum Eklat kommt, ist Josef siebzehn.
Für damalige Verhältnisse erwachsen.
Trotzdem verhätschelt Jakob ihn immer noch
und zieht ihn ganz unverhohlen seinen Brüdern vor, indem er ihn reich beschenkt.
Wenn die anderen Brüder die Herden auf die Weide treiben,
darf Josef auch mal zuhause bleiben oder zuschauen.
Zum Dank hinterbringt er seinem Vater, was seine Halbbrüder anstellen – sie haben keinen guten Ruf.

Einmal träumt Josef,
dass sich Sonne, Mond und Sterne vor ihm verneigen.
Jetzt platzt sogar seinem Vater der Kragen:
«Sollen wir vielleicht, ich, deine Mutter und deine Brüder,
kommen und uns vor dir zur Erde niederwerfen?» (Gen 37,11)
Doch selbst jetzt trägt Jakob nichts zur Klärung der Konflikte bei – im Gegenteil: Er lässt Josef ins Messer laufen. Naiv und blind für die Katastrophe, die sich anbahnt.
Josefs Brüder weiden die Herden, weit weg von zuhause.

Josef durfte wieder einmal bei Jakob bleiben.
Jetzt schickt Jakob Josef den Brüdern hinterher.
Nicht zum Arbeiten, sondern als Beobachter,
ja geradezu als Aufseher:
«Geh doch hin und sieh, wie es deinen Brüdern und dem Vieh geht, und berichte mir!»
(Gen 37,14)
Josef erklärt sich bereit, ganz ausdrücklich, und geht.
Vielleicht ahnt er, dass die Sache nicht gut ausgehen kann.
Als die Brüder ihn von weitem kommen sehen, schmieden sie Mordpläne.
In letzter Minute kann Ruben, der Älteste, das Schlimmste verhindern.
Sie bringen Josef nicht um, sondern werfen ihn in eine leere Zisterne.
Als eine Karawane vorbeikommt, wollen sie Josef an die Händler verkaufen.
Doch als sie zur Zisterne kommen, ist Josef nicht mehr da –
eine andere Karawane hatte Josef bereits entdeckt und ihrerseits verkauft.
Josefs Brüder sitzen in der Patsche.
Sie machen ihren Vater glauben, ein wildes Tier habe Josef gefressen.
Jakob ist untröstlich und will am liebsten sterben.
Dass er selbst dazu beigetragen hat, dass der Konflikt derart eskaliert,
kommt ihm nicht in den Sinn.

Josef landet in Ägypten, als Haussklave beim Chef der Leibwache des Pharao.
Dort, im Haushalt des Potifar, zeigt sich erstmals, dass Josef nicht nur ein verwöhntes Jüngelchen ist, sondern auch arbeiten kann und sogar Charakter hat.
In der Fremde hat Josef Erfolg.
Er steigt zum Hausverwalter des Potifar auf
und wird zum einflussreichsten Mann im ganzen Haus.
Sogar Potifars Frau findet Gefallen an Josef. Sie macht ihm eindeutige Avancen.
Als Josef nicht darauf eingeht, inszeniert sie einen Skandal
– sie beschuldigt ihn, er habe sie vergewaltigen wollen.
Potifar glaubt seiner Frau und lässt Josef ins Königsgefängnis werfen.
Seit seiner Zisternen-Erfahrung war Josef nicht mehr so weit unten.
Auch im Gefängnis rappelt er sich jedoch wieder auf.
Wieder gelingt Josef alles, was er in die Hand nimmt
– er wird zur rechten Hand des Gefängnisdirektors.
Und da es das Königsgefängnis ist, lernt Josef im Laufe der Zeit einflussreiche Leute kennen.
Einer von ihnen, der Obermundschenk des Pharao, verhilft Josef Jahre später zur Freiheit:
Als der Pharao verzweifelt eine Deutung für seine bedrängenden Träume sucht,
erinnert sich der Obermundschenk daran, dass Josef Träume deuten kann.

Josef wird vor den Pharao geführt und erklärt ihm seine Träume:
Zunächst könne sich Ägypten auf sieben Jahre mit reichlicher Ernte freuen,
doch dann würden sieben Hungerjahre folgen.
An die Traumdeutung hängt Josef gleich noch einen Vorschlag zur Bewältigung der Krise an.
Pharao ist begeistert, verheiratet Josef mit der Tochter eines hohen Priesters
und macht Josef zum zweiten Mann im Reich:
«Du sollst über meinem Hause stehen, und deinem Wort soll sich mein ganzes Volk beugen. Nur um den Thron will ich höher sein als du» (Gen 41,40).

In den folgenden vierzehn Jahren setzt Josef als Herr über Ägypten ein skrupelloses neoliberales Wirtschaftsprogramm um, das die Manager mancher internationaler Lebensmittelkonzerne heute wohl vor Neid erblassen lassen würde:
In den sieben fetten Wirtschaftsjahren lässt Josef in ganz Ägypten Getreidespeicher bauen,
kauft die gesamte Getreideproduktion Ägyptens auf
und lagert sie in den Königsspeichern ein.

Als die sieben Jahre mit Ernteausfällen und Hungersnot beginnen,
verkauft Josef den ÄgypterInnen zunächst Getreide.
Als die Krise sich verschärft, verkauft er jedoch nicht mehr Getreide, sondern Brot:
Die Bauern können nicht mehr säen und ihre Felder nicht mehr bestellen.
Wer das Brot nicht mehr zahlen kann, muss erst sein Vieh,
dann sein Ackerland und schliesslich auch sich selbst dem Pharao verkaufen.
Erst nachdem Josef so alles Ackerland Ägyptens in den Besitz Pharaos gebracht
und die Bevölkerung versklavt hat, gibt er wieder Saatgut heraus – allerdings unter neuen Bedingungen: Ab jetzt muss ein Fünftel von jeder Ernte an Pharao abgeführt werden.
Doch die Ägypter, so die Erzählung, protestieren nicht gegen die neuen Bedingungen,
sondern sind dankbar dafür, dass Josef ihr Leben gerettet hat.

In ihrer Not hatten sie sich Josef selbst als Sklaven angeboten.
Die Hungersnot erfasst nicht nur Ägypten, sondern auch Josefs Heimatland.
Jakob schickt deshalb seine Söhne nach Ägypten, um dort Getreide einzukaufen.
Seinen jüngsten Sohn Benjamin lässt er nicht mitgehen – zu gross ist Jakobs Angst, seinem zweiten und letzten Liebling könne ebenfalls etwas zustossen.
So stehen eines Tages die zehn Halbbrüder vor Josef, um Getreide zu kaufen.
Josef erkennt sie, sie ihn jedoch nicht.
Jetzt spielt Josef seine ganze Macht aus und beginnt ein grausames Versteckspiel mit seinen Halbbrüdern. Es scheint, als breche seine ganze Verletzung durch seine Brüder aus ihm heraus und finde in dem Versteckspiel ein Ventil.
Er setzt seine Brüder willkürlichen Repressionen aus,
testet aber auch ihre Ehrlichkeit und ihre Loyalität untereinander.
Schliesslich verkauft er ihnen Getreide, doch er behält einen seiner Halbbrüder, Simeon, als Geisel zurück: Erst wenn sie noch einmal mit ihrem jüngsten Bruder Benjamin zurückkämen, werde er Simeon wieder freilassen. So gequält, erinnern sie sich an ihre eigenen Untaten Josef gegenüber:
«Ach ja, wir sind an unserem Bruder schuldig geworden.
Wir haben zugesehen, wie er sich um sein Leben ängstigte.
Als er uns um Erbarmen anflehte, haben wir nicht auf ihn gehört.
Deshalb ist nun diese Bedrängnis über uns gekommen!» (Gen 42,21)

Nach ihrer Rückkehr wollen sie sich noch einmal in die «Höhle des Löwen» wagen und mit Benjamin nach Ägypten reisen, um Simeon wieder frei zu bekommen.
Ihr Vater Jakob lässt dies aber nicht zu: Er, der Vater, lässt lieber Simeon im ägyptischen Gefängnis verschmachten als Benjamin seinen Brüdern anzuvertrauen.
Später wird Ruben, der Älteste, das Problem auf den Punkt bringen: Jakobs Seele ist mit Benjamins Seele «verknotet». Wenn Benjamin den Vater verlässt, würde Jakob sterben. Weil Jakob nicht ohne Benjamin leben kann, opfert er Simeon.

Wo und für welche Ziele opfern heute Väter und Mütter ihre Kinder?

Doch die Hungersnot ist hart, und sie dauert lange: Als das eingekaufte Getreide aufgebraucht ist, kommt Jakob nicht umhin, seine Söhne noch einmal nach Ägypten zu schicken. Wieder will er Benjamin zurückbehalten – doch jetzt, endlich, werden Jakobs längst volljährige Söhne erwachsen und leisten den nötigen Widerstand gegen ihren Vater: Entweder Benjamin kommt mit, so sagen sie – oder niemand zieht nach Ägypten. Jakob fügt sich widerwillig.
Als seine Halbbrüder wieder vor ihm stehen, treibt Josef sein mutwilliges Versteckspiel weiter.
Ganz offensichtlich bevorzugt er – weiterhin inkognito – Benjamin vor den anderen Brüdern, und wiederum setzt er alle unter Druck. Die Brüder lassen sich nicht provozieren.
Doch bei der Abreise lässt Josef Benjamin einen kostbaren Kelch ins Gepäck legen, nur um anschliessend seinen Brüdern nachjagen zu lassen und sie des Diebstahls zu bezichtigen. Entsetzt und zu Recht weisen die Brüder den Vorwurf zurück – doch dann findet sich der Kelch ausgerechnet bei Benjamin.
Jetzt spielt, erstmals in der ganzen Erzählung, die Brüdersolidarität auch über die Grenzen der verschiedenen Mütter und Einzelsippen hinweg:
Die Söhne Jakobs liefern Benjamin nicht aus, sondern kehren alle zu Josef zurück. Dort bietet sich Juda als Ersatzgefangener für seinen Halbbruder Benjamin an, um seinem Vater den Verlust Benjamins zu ersparen.
Nun endlich bekommt auch Josefs harte Schale Risse: Angesichts der Solidarität aller Brüder mit Benjamin gibt er sein grausames Spiel auf und gibt sich seinen Brüdern zu erkennen.
Und er erzählt seinen Brüdern, wie er ihre gemeinsame, wechselvolle Geschichte inzwischen interpretiert:
«Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt.
Jetzt aber lasst es euch nicht mehr leid sein, und grämt euch nicht,
weil ihr mich hierher verkauft habt. Denn um Leben zu erhalten, hat Gott mich vor euch hergeschickt. (…) Also nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern Gott».
Um zu dieser versöhnlichen Deutung seines Lebens zu kommen, hat es allerdings viel gebraucht: Nicht nur sein eigenes wechselvolles Leben mit Aufstieg, jähem Sturz und Wiederaufstieg zu unumschränkter Macht, Heirat und eigener Familiengründung, sondern auch das erbarmungslose Spiel, das er selber nun mit seinen Brüdern getrieben hat.

Hat die Erzählung ein Happy End? So ganz eindeutig ist das in der Bibel nicht. Josef fällt Benjamin zwar um den Hals und spricht freundlich mit seinen Halbbrüdern, doch zu einer eigentlichen Versöhnung kommt es nicht.
Jakob und seine Familie ziehen für die Zeit der Hungersnot nach Ägypten und überleben dort.
Alle leben weiter – doch jeder hat auch seinen Teil der Schuld zu tragen, den er an der verworrenen Familiengeschichte hat.

Nach Jakobs Tod befällt die Halbbrüder Josefs noch einmal Angst: Wird sich Josef jetzt, nach dem Tod des Vaters, doch noch an ihnen rächen? So schicken sie zu Josef und behaupten, der Vater habe ihnen vor seinem Tod aufgetragen, ihn um Versöhnung zu bitten.
Josef tröstet seine Halbbrüder zwar und verspricht ihnen seine Fürsorge.
Auch zu einer wichtigen Selbsterkenntnis ist Josef inzwischen gekommen – er erkennt die Grenzen seiner enormen Macht an:
«Stehe ich denn an Gottes Stelle?» (Gen 50,19)
Zu befürchten haben seine Brüder von Josef nichts mehr, so viel ist klar. Doch ob er ihnen die erbetene Versöhnung tatsächlich gewährt, bleibt offen. Josef und seine Brüder können wieder miteinander leben. Das ist schon ziemlich viel in einer Familie, in der es fast zu Mord und Totschlag gekommen wäre.

Doch was würde es – noch darüber hinaus – bedeuten, wenn es wirklich zur Versöhnung kommen würde zwischen Josef und seinen Brüdern?
Was heisst es, mich wirklich, ohne jeden kleinen Rest zu versöhnen mit Menschen, die mir Unrecht zugefügt haben? An denen ich auch selber schuldig geworden bin? Geht das überhaupt, oder ist das eine hoffnungslose Überforderung?
Welche Rolle spielt dabei die Zusage Gottes, dass ER zur Versöhnung bereit ist – jederzeit?
Und was bleibt noch zu tun, wenn ich diese Zusage Gottes wahrhaftig im Innersten erfahre, zugesprochen bekomme? Welche Konsequenzen hat es, mich versöhnen zu lassen – auch mit Gott?

Detlef Hecking, 20.2.09