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Unterschiedlich und verbunden – ein Netz mit Zwischenräumen   

Peter Zürn zum Bibelsonntag 2007 SKZ 45/2007

«Simon Petrus, Thomas, genannt Didymus (Zwilling), Natanael aus Kana in Galiläa, die Söhne des Zebedäus und zwei andere von seinen Jüngerinnen und Jüngern waren zusammen.» Sieben Personen sind in Joh 21,1–14 genannt, denen der Auferstandene sich offenbart.

Joh 21 als narratives Networking

Die Zahl 7 symbolisiert Fülle und Vollständigkeit. Die Sieben repräsentieren die Nachfolgegemeinschaft Jesu in Galiläa und Jerusalem und zugleich die zukünftige Gemeinde. Fünf Personen werden identifiziert, zwei bleiben unbenannt. Die beiden nicht genauer benannten fungieren als «Platzhalter» (Klaus Wengst) und schaff en Raum dafür, dass sich die Leserinnen und Leser durch sie in die Geschichte hineinversetzen können. Sie sind ganz offene Anknüpfungspunkte. In 21,7 wird «der Jünger, den Jesus liebte» genannt. Welcher der sieben ist es? Er bleibt namenlos, aber nach Joh 21,24 und in der altkirchlichen Tradition gilt er als der Verfasser des Evangeliums. Er ist Augen zeuge des Geschehens um Jesus und Stütze der späteren johanneischen Gemeinde. Er verknüpft die beiden Zeiten miteinander.

Bei jeder der fünf persönlich genannten Personen ist anderes wichtig, mal der volle Name, mal der Übername, mal die geographische Herkunft, mal die familiäre. In der kurzen Aufzählung werden ganz unterschiedliche Personen sichtbar, werden Vorgeschichten erinnert, kommen individuelle Lebens- und Glaubensgeschichten ins Spiel – die besondere Begegnung des Thomas mit dem Auferstandenen (Joh 20,24–29), der anfängliche Zweifel des Natanael an Jesus und seine Offenheit für neue Sichtweisen (Joh 1,43-51), die Hochzeit von Kana (Joh 2,1–12), die wiederholten Auseinandersetzungen mit Herrschaftsansprüchen und Gewalt im Kreis der Jüngerinnen und Jünger, die besonders in den Söhnen des Zebedäus, Jakobus und Johannes zum Ausdruck kommen (Mk 10,35–45 par; Lk 9,51–55) . . . Diese Vielfalt und Individualität schaff t Anknüpfungspunkte für die vielfältigen und individuellen Lebens- und Glaubensgeschichten der Leserinnen und Leser.

Joh 21 ist ein Nachtragskapitel zum Evangelium, das in 20,30–31 einen logischen Schluss hat. Der Nachtrag stammt wohl von einem zweiten Verfasser und führt das Evangelium mit bestimmten Absichten weiter. Joh 21 rückt besonders Simon Petrus in den Mittelpunkt. Damit soll wohl die Autorität des Simon Petrus auch für die johanneische Gemeinde aufgebaut werden (v. a. in Joh 21,15–17). Aber gleichzeitig werden die beiden Jünger, Simon Petrus und der Lieblingsjünger als gleichwertig und «gleichen Ran ges» dargestellt (Rudolf Bultmann). Beide haben ihre wesentliche Funktion in der Geschichte, sie sind miteinander verbunden, wie es auch die Gemeinden sein sollen.

Ökumene in der Bibel

In diesem Kontext ist auch die Erwähnung der Söhne des Zebedäus zu sehen, die ansonsten im Johannesevangelium keine Rolle spielen. Joh 21 ist daran interessiert, die synoptischen Traditionen mit den Traditionen seiner Gemeinde zu verknüpfen, sie ekklesiologisch fruchtbar zu machen. Das Nachtragskapitel Joh 21 will ein Netz knüpfen, in dem die verschiedenen Strömungen innerhalb des frühen Christentums miteinander verbunden sind. Klaus Wengst lokalisiert die Entstehung dieses Kapitels in Ephesus. In der Hauptstadt der Provinz Asia sind sich unterschiedliche Trägerkreise der christlichen Bewegung mit ihren jeweiligen Traditionen begegnet. In diese Situation bringt der Verfasser von Joh 21 das Johannesevangelium ein. Er tut es auf «sozusagen ökumenische Weise» (Wengst), indem er eine andere, von der eigenen abweichende Tradition in ihrer Eigenart anerkennt, ohne die eigene Tradition in ihrer Eigenart aufzugeben oder unkenntlich zu machen.

Die Erzählungen in Joh 21 sind narratives Networking. Sie knüpfen ein Netz, verknüpfen unterschiedliche Fäden zu einem tragfähigen Ganzen. Die Fäden sind die Lebens- und Glaubensgeschichten von Menschen in ihrer Individualität und Einzigartigkeit. Die Fäden sind auch die unterschiedlichen Geschichten und Traditionen von Gruppen und Gemeinschaften innerhalb des frühen Christentums. Das Christentum war von Anfang an eine pluralistische Bewegung und ist es immer geblieben. Immer wieder kam es in dieser Geschichte zu schmerzhaften und verlustreichen Ausgrenzungen, immer wieder auch zu einseitigen Zentralisierungen. Unsere Geschichte ist aber auch eine Geschichte des erfolgreichen Verbindens und Netzeknüpfens, die biblisch (zum Beispiel) mit Joh 21 verknüpft werden kann. Das Bild des Netzes, das so ins Zentrum rückt, macht die kunstvollen Knotenpunkte sichtbar und richtet den Blick zugleich auf die Zwischenräume, ohne die das Netz aufhören würde ein Netz zu sein und ohne die das Netz seine Funktion verlieren würde. Die Gemeinschaft der Glaubenden, die – beim Fischen, im Alltag – dem Auferstandenen begegnet, die nach der Nacht der Vergeblichkeit die Fülle erlebt und die eingeladen ist, zum Feuer zu kommen und miteinander zu essen, entsteht nach Joh 21 als Netz mit Zwischenräumen.

Auseinandersetzung mit dem Text: Glaubenserfahrungen im Bibliodrama

Joh 21,1–14 bietet vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für die Leserinnen und Leser der Geschichte: durch die beiden nicht näher genannten Jüngerinnen und Jünger, durch die verschiedenen Geschichten, die in den genannten Personen anklingen, durch die Bild- und Symbolsprache des vergeblichen Fischfangs, des gefüllten Netzes, des Kohlenfeuers usw. Damit ist die Erzählung besonders geeignet dafür, ihr im Bibliodrama zu begegnen. Das haben 40 Personen, katholische und reformierte Theologinnen und Theologen, Katechetinnen, Bibliodramaleiterinnen und -leiter, während des Ersten Schweizer Bibliodrama-Symposions 2006 drei Tage lang getan. In einer gleichbleibenden Gruppe spielte jede und jeder viermal diesen Text. Unterschiedlich war jeweils die Art des bibliodramatischen Zugangs, denn Bibliodrama gibt es nur im Plural, in verschiedenen Schulen und methodischen Ausprägungen. Verbunden sind sie alle darin, einen Bibeltext als Raum zu begreifen, in den wir hineingehen und leiblich erfahren können, was sich im Textraum ereignet. Im Bibliodrama werden die Teilnehmenden eingeladen, sich im Raum dieses Textes einen Ort, eine Rolle zu wählen, meinen Ort und meine Rolle heute, in diesem Moment. An diesem Ort und in dieser Rolle begegnen sich die biblische Geschichte und meine individuelle Lebens- und Glaubensgeschichte, hier spricht der Text in meine Gegenwart, als Zusage oder Anfrage... Zur leiblichen Erfahrung eines Textes in der Rolle und im Spiel gehört im Bibliodrama wesentlich auch die Deutung des Erlebten im Gespräch. Dabei geht es nicht darum, die eine richtige Deutung zu finden. Die Deutung folgt der Erfahrung und die ist individuell und vielschichtig. Wenn die Glaubenserfahrung von Menschen ins Wort kommt, können andere sich damit auseinandersetzen, sich davon abgrenzen oder daran anknüpfen. Bibliodrama ermöglicht Glaubenserfahrungen, es schaff t einen geschützten und begleiteten Rahmen dafür, Glaubenserfahrungen ins Wort zu bringen und über Glaubenserfahrungen ins Gespräch zu kommen. Es wird möglich, danach zu suchen, was davon existentielle Bedeutung hat – für einzelne und für Gruppen. Es wird möglich, aus der individuellen und einzigartigen Erfahrung heraus nach dem Verbindlichen und Verbindenden zu suchen. Es entsteht ein Netz mit Zwischenräumen, Kirche.

Für die Ökumenischen Unterlagen zum Bibelsonntag 2007 haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bibliodrama-Symposions ihre Glaubenserfahrungen im Raum des Textes von Joh 21,1–14 aufgeschrieben. Sie legen Zeugnis ab von ihrern Erfahrungen in der Rolle von Petrus, der mit Jesus unterwegs war, sein Gottfeuer gespürt hat, ihn dann am Kohlenfeuer im Vorhof des Palastes des Hohepriesters verleugnet hat und jetzt von ihm wieder an ein Kohlenfeuer eingeladen wird. Sie legen Zeugnis ab von ihren Erfahrungen im Fischerboot in der langen Nacht des vergeblichen Fischens. Und von ihren Erfahrungen in der Rolle des Jüngers, den Jesus liebte, vom Kosten und Schmecken des Wortes «Es ist der Herr!» mit allen Fasern ihres Leibes. Ich möchte allen, die dazu bereit waren, meinen ganz herzlichen Dank aussprechen. Es ist nicht einfach und braucht Mut, in dieser Art off en und öffentlich von eigenen Glaubenserfahrungen zu erzählen – ohne nur leere Worthülsen zu verwenden und ohne fundamentalistisch zu werden. Wir sind nicht geübt darin, auch nicht oder gerade nicht als Menschen, die beruflich mit der Kirche verbunden sind. Umso wertvoller sind für mich die Beiträge in den Unterlagen zum Bibelsonntag. Ich würde mich freuen, wenn viele andere Menschen durch sie zu eigenen Erfahrungen mit diesem Bibeltext und zum Glaubensgespräch darüber angeregt und ermutigt würden.

Der Bibelsonntag 2007

Die Ökumenischen Unterlagen zum Bibelsonntag werden wie jedes Jahr herausgegeben von der Schweizerischen Bibelgesellschaft und der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerische Katholischen Bibelwerks SKB. Sie wurden im Juni 2007 an alle Gemeinden und Pfarreien in der deutschsprachigen Schweiz verschickt. Sie können auch weiterhin zum Preis von 10 Franken bei der Bibelpastoralen Arbeitsstelle bezogen werden.

In den Unterlagen finden sich ein Textblatt zu Joh 21,1–14, exegetische Beobachtungen zum Text, Zugänge zum Text mit Erfahrungen aus dem Bibliodrama, Elemente für einen Gottesdienst, ein Predigtentwurf, eine Einführung ins Bibliodrama sowie drei Bibelarbeiten zu Joh 21,1–14. Eine dieser Bibel arbeiten verwendet Elemente aus dem Bibliodrama, eine zweite gestaltet die Begegnung mit dem Text in Form eines Rituals und die dritte arbeitet mit einem Vergleich verschiedener Übersetzungen (Einheitsübersetzung, Bibel in gerechter Sprache, Neue Zürcher Bibelübersetzung). Als Datum für den Bibelsonntag schlägt das Schweizerische Katholische Bibelwerk den Pfarreien den 17./18. November 2007 vor.

«Ausserhalb von Beziehung kein Heil»: Bibliodrama und Seelsorge
Immer wieder begegne ich Vorurteilen und Vorbehalten gegenüber dem Bibliodrama. Aus den oben gemachten Ausführungen sollte klar geworden sein, dass es beim Bibliodrama nicht darum geht, einen Bibeltext als Theaterstück aufzuführen. Genauso wenig geht es darum, mit Bibeltexten Selbsterfahrung und Psychotherapie zu betreiben. Allerdings ist Bibliodrama, eine Form der Bibelarbeit, nicht möglich, ohne die Bereitschaft, sich von Bibeltexten persönlich und existentiell betreffen zu lassen. In den Raum des Textes bin ich ganz eingeladen, mit allem, was ich mitbringe und was mich ausmacht, auch mit meinem exegetischen Wissen über einen Text. Bibliodrama ist Auseinandersetzung mit dem Bibeltext in all seinen Dimensionen, auch in seiner Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Der Text soll aber nicht nur ein historischer bleiben, sondern gegenwärtig werden, in meinem Leben und im Leben der Gruppe wirken. Die Leitung eines Bibliodramas ist Seelsorge. Seelsorge im Bibliodrama begleitet Menschen in ihrer aktuellen Lebens- und Glaubenssituation und bringt sie in Verbindung mit der Geschichte Gottes mit den Menschen, von der die Bibel Zeugnis ablegt und Wahrheit um unseres Heils willen zum Ausdruck bringt. Erfahrungen im Bibliodrama können die Tätigkeit jeder Seelsorgerin und jedes Seelsorgers bereichern. Insbesondere die Form von Bibliodrama, die in der Propstei Wislikofen AG praktiziert und refl ektiert wird (Wislikofer Schule), stellt den engen Zusammenhang von Bibliodrama und Seelsorge ins Zentrum. Unter www.bibliodramaundseelsorge.ch wird formuliert, an welche Zielgruppe sich diese Form richtet: An Menschen,

die sich bewusst in die biblische Tradition stellen und ihre Verbindung zu dieser Tradition vertiefen wollen – durch eine Auseinandersetzung, bei der Abgrenzung und Anknüpfung möglich ist;
die ihre Lebensgeschichte mit der biblischen Tradition verbinden und ihre Lebenserfahrungen in den Horizont des biblischen Glaubens stellen wollen, d. h. Menschen, die z. B. danach fragen, welches ihre Berufung ist, was für sie Nachfolge Jesu bedeutet oder wie die Geistkraft Gottes in ihrem Leben wirkt;
die sich mit anderen Menschen, die in dieser Tradition stehen, verbinden wollen und die off en sind für die Erfahrung, dass sich das Heil, von dem die Bibel verheissungsvoll spricht, in Beziehung verwirklicht;
die ihre Lebens- und Glaubenserfahrungen leiblich ausdrücken und ins Wort bringen wollen, dass sie für sich selbst und für andere verbindlich und verbindend werden;
die in den biblischen Texten und in den heutigen Lebens- und Glaubensgeschichten dem Geheimnis des Lebens begegnen wollen, das die Bibel
mit dem Namen «Ich-bin-da» (nach Ex 3) und in vielen anderen Formen – als Gott in Beziehung zum Ausdruck und ins Wort bringt;
die sich in der Begegnung mit dem göttlichen Geheimnis zu einem Leben in Beziehung rufen und herausfordern lassen, zu Beziehungen, in denen darum gerungen wird, dass sie allen gerecht werden;
die wollen, dass gerechte Beziehungen in allen Bereichen des Lebens und über alle Grenzen hinweg möglich und wirklich werden und dafür die Gemeinschaft derer suchen, die sich ebenfalls dazu gerufen fühlen – diese Gemeinschaft wird in biblischer Tradition Ekklesia, Versammlung der unter dem Wort Herausgerufenen, Kirche genannt;
die Theologie treiben wollen, das heisst ihre Erfahrungen und ihre Worte verbindlich in das grosse Gespräch über den Glauben einbringen wollen, das Menschen seit Generationen und bis heute führen;
die als Seelsorgerinnen und Seelsorger Menschen begleiten und ihnen Räume dafür öffnen wollen, das eigene Leben in den Horizont des Glaubens zu stellen.
«Ausserhalb von Beziehung kein Heil» (Nicolaas Derksen). In diesem Satz verdichtet sich das Selbstverständnis des Bibliodramas nach der Wislikofer Schule. Die Beziehungen, die im Bibliodrama Gestalt annehmen, gleichen dem Netz mit Zwischenräumen. In diesen Zwischenräumen öffnen sich unsere alltäglichen Erfahrungen für die Tiefenräume des Lebens, für die Begegnung mit dem lebendigen und lebenschaffenden Gott, den die Bibel bezeugt. In diesen Zwischenräumen wird das Geheimnis des Lebens erfahrbar und bleibt doch unverfügbares Geheimnis. Die Beziehung zu Gott als lebensschaffender Macht-in-Beziehung gleicht ebenfalls dem tragfähigen Netz mit Zwischenräumen.

Bibliodramatische Elemente für die Pastoral

Bibliodrama ist ein Heilmittel. Lassen Sie sich von einer Fachperson beraten. Die Propstei Wislikofen in Zusammenarbeit mit dem IFOK bietet Ausbildungen zur Bibliodramaleitung an (www.ifok.ch; www.propstei.ch). Auch andere Bibliodramaschulen bieten in der Schweiz Ausbildungsgänge an. Informationen darüber fi nden sich auf der Homepage des Dachverbandes IGB unter www.bibliodrama.net.

Der Wislikofer Schule für Bibliodrama ist es ein besonderes Anliegen, das Bibliodrama für die Seelsorge in den verschiedenen pastoralen Feldern fruchtbar zu machen. Deswegen entwickeln die Leiterinnen und Leiter dieser Schule immer wieder bibliodramatische Elemente und Kleinformen, die sich in den verschiedensten pastoralen Praxisfeldern (Liturgie, Sitzungen von Gremien, Katechese, Exerzitien, seelsorgerliche Beratungsgespräche . . .) ein- und umsetzen lassen – auch von Seelsorgenden ohne Bibliodramaausbildung. Im Magazinteil der Zeitschrift ferment findet sich in den Ausgaben 2/2007 bis 1/2008 jeweils ein Beispiel dafür (www.ferment.ch). Bei der Herbsttagung der IKB (Information kirchliche Berufe) vom 26./27. Oktober 2007 wurden solche praxisnahen Elemente vorgestellt und erprobt. Für den Sommer 2008 ist die Publikation eines Buches mit bibliodramatischen Elementen für die pastorale Praxis geplant.

Peter Zürn, Theologe und Familien mann, ist Fachmitarbeiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich.