Wir bringen die Bibel ins Gespräch

« . . . und die Fremden in deiner Mitte.»   

Dieter Bauer zu Deuteronomium 26,4–10 in: Dein Wort. Mein Weg. Zeitschrift für Bibel und Alltag 1/2010, S. 26-29

Dass ich überhaupt existiere, habe ich persönlich der grössten Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu verdanken. Ohne den Terror des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa und die darauf folgenden Vertreibungen der «Deutschen» hätten meine Eltern sich nicht kennenlernen können. Diese Geschichte gehört zu mir und bestimmt mein Leben. Für mich heisst das: Wenn diese furchtbare Geschichte einen Sinn gehabt haben soll, dann doch wohl nur den, dass sie Konsequenzen haben muss. Dass ich z. B. noch nie etwas mit Nationalismen anfangen konnte, liegt genau darin begründet. Weil ich weiss, dass Flucht und Vertreibung zu meiner Geschichte gehören, fühle ich mich anderen Flüchtlingen und Vertriebenen verpflichtet und kann nicht einsehen, warum eine Nation sich dem Leid solcher Menschen verschliessen sollte.

Mit Israel lesen
Auch für Israel war seit jeher klar, dass das Land, in dem es lebte, nicht eigentlich ihre «Heimat» war. Immer wieder betonen die biblischen Überlieferungen, dass dieses Land ein Geschenk Gottes ist, eine Gabe, die verpflichtet:
Wenn du in das Land, das der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, hineinziehst, es in Besitz nimmst und darin wohnst, dann sollst du von den ersten Erträgen aller Feldfrüchte, die du in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt, eingebracht hast, etwas nehmen und in einen Korb legen. Dann sollst du zu der Stätte ziehen, die der Herr, dein Gott, auswählt, indem er dort seinen Namen wohnen lässt. Du sollst vor den Priester treten, der dann amtiert, und sollst zu ihm sagen: Heute bestätige ich vor dem Herrn, deinem Gott, dass ich in das Land gekommen bin, von dem ich weiss: Er hat unseren Vätern geschworen, es uns zu geben (Dtn 26,1–3).
Was hier beschrieben ist (und zur alttestamentlichen Lesung des Sonntags unbedingt mit hinzugenommen werden sollte), ist viel mehr, als unser «Erntedank». Die Erträge der Feldfrüchte sind Grund für eine Besinnung darüber, dass das Wohnen im Land nichts Selbstverständliches ist. Nicht der «Erntegewinn» ist Grund für die Dankbarkeit – und womöglich für die Bitte um weitere «Gewinnmaximierung».
Die Rückbesinnung darauf, dass dieses Land Israel nicht einfach «gehört», sondern «gegeben» ist, lässt dankbar sein und gibt Anlass zur Erinnerung der «Geschichte»:
Du aber sollst vor dem Herrn, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten, lebte dort als Fremder mit wenigen Leuten und wurde dort zu einem grossen, mächtigen und zahlreichen Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrieen zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter grossem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fliessen. Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du mir gegeben hast, Herr (Dtn 26,5–10).
Ich kann einen solchen Text nicht lesen, ohne mir meiner eigenen Geschichte bewusst zu werden. Die Rückbesinnung auf die Heimatlosigkeit des «Vaters» – oder besser: unserer Väter und Mütter – hat Konsequenzen. Wenn Israel sagen kann, dass es von einem «Aramäer» – heute müsste man sagen, einem Syrer – abstammt, dann war das sicher im Verlauf der langen Geschichte immer wieder auch eine Provokation. Man braucht nur an die Aramäerkriege der Könige des Nordreichs Israel zu denken oder auch an die Besatzung durch die in Syrien residierenden Seleukiden – vom heutigen Syrien ganz zu schweigen.
Wer weiss, dass er – wie ich – nur zwei bis drei Generationen zurückgehen muss, um halb Europa in seinem Stammbaum zu finden, der kann nicht auf andere Bevölkerungsgruppen herabschauen. Diese «Erinnerung» hilft mir, dankbar zu sein für das Land, in dem ich lebe und Heimat gefunden habe. Und es ist mir wichtig, davon meinen Kindern weiterzugeben, für die dies «eine alte Geschichte» ist. Von Israel kann ich lernen, dass es die «Erinnerung» ist, die zum angemessenen Leben und zur Dankbarkeit verhilft.

Mit der Kirche lesen

Unsere Kirche hat den Text Dtn 26,4–10 für den 1. Fastensonntag als Lesung ausgewählt. Sie hat den Text dadurch allerdings vorne und hinten etwas «beschnitten» und ihm damit einen sehr speziellen «Rahmen» gegeben:
Dann soll der Priester den Korb aus deiner Hand entgegennehmen und ihn vor den Altar des Herrn, deines Gottes, stellen. (…) Wenn du den Korb vor den Herrn, deinen Gott, gestellt hast, sollst du dich vor dem Herrn, deinem Gott, niederwerfen (Dtn 26,4.10).
Diese «priesterliche Rahmung» – die Feldfrüchte sind für den Priester bestimmt, an uns ist es, uns niederzuwerfen – lässt leider nichts mehr davon erkennen, dass es sich um ein absolutes Freudenfest handelt. Dazu fordert unser Text nämlich ausdrücklich auf (und deshalb sollte auch dieser Vers zur Lesung hinzugenommen werden):
Dann sollst du fröhlich sein und dich freuen über alles Gute, das der Herr, dein Gott, dir und deiner Familie gegeben hat: du, die Leviten und die Fremden in deiner Mitte (Dtn 26,11).
Dass die Fremden als Mitfeiernde hier noch einmal eigens genannt werden, ist «Frucht der Erinnerung». Wer selbst Fremder war, kann die Fremden nicht ausschliessen vom Fest. Man kann sich nun über diese «priesterliche Rahmung» ärgern, die ausgerechnet die Festesfreude und das Engagement für die Fremden «opfert». Man kann aber auch versuchen, das Positive zu sehen:
Wäre diese Vermittlung der «Erinnerung» – man muss schon sagen: der «gefährlichen Erinnerung» – nicht zutiefst eine priesterliche Aufgabe? Und ist es nicht so, dass die immer wiederkehrende Verlesung dieses Textes im Gottesdienst und seine Auslegung in der Predigt uns immunisieren könnte gegen jede Form von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Überheblichkeiten, unsolidarische Anwandlungen oder schlicht Undankbarkeit für all das, was uns Gott schon gegeben hat und immer wieder gibt. Darum geht es nämlich letztlich in diesem Text: zutiefst dankbar zu sein. Und wer aus dieser Dankbarkeit lebt, kann gar nicht anders, als mit offenen Augen, Ohren und Herzen durchs Leben zu gehen. Was das meint, habe ich sehr schön in einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger (* 1929) gefunden:

Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur
Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, dass mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draussen im Garten auch.
(aus: Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte, Frankfurt am Main 1995)

Auch wenn Hans Magnus Enzensberger den Empfänger nicht kennen sollte, wir kennen ihn – nicht zuletzt aus der «Erinnerung» Israels.

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