Wir bringen die Bibel ins Gespräch

Das Gericht, das Menschen aufbaut   

Peter Zürn zu Jer 31,7-9 und Mk 10,46-52 in: Dein Wort. Mein Weg. Zeitschrift für Bibel im Alltag 4/2009, s. 26-29.

«Mit Israel lesen»

Im Synagogengottesdienst gibt es zwei biblische Lesungen. Zentral ist die fortlaufende, wöchentliche Lesung aus der Tora, den 5 Büchern Mose. Jedem Wochenabschnitt aus der Tora, der Parascha, ist ein Abschnitt aus den prophetischen Schriften, die Haftara, zugeordnet. Jer 31,1-19, also der grössere Zusammenhang unseres Lesungstextes, ist die Haftara am 2. Tag des Neujahrsfestes Rosch Haschana zur Tora-Lesung von Gen 22, der Bindung Isaaks. Die Bedeutung von Jer 31 im Judentum erschliesst sich von dieser Stellung im jüdischen Kalender her.
Mit Rosch Ha Schana beginnen die Hohen Festtage, die bis zum Versöhnungstag, dem Jom Kippur reichen – auch als die Erhabenen Tage, die Tage der Ehrfurcht bzw. die Furchtbaren Tage bezeichnet. Es sind 10 Tage der Selbstbesinnung und Reue. An ihnen stellen sich jüdische Menschen vor Gott als dem Richter des Universums. An diesen Tagen, heisst es, «zittern selbst die Fische im Wasser».
Rosch Haschana (wörtlich Haupt oder Kopf des Jahres), ist der erste Tag des jüdischen Kalenders. An diesem Tag ist nach jüdischem Verständnis die Welt erschaffen worden und wird jedes Jahr in den Menschen wieder erschaffen, indem sie sich in Umkehr und Rechenschaft, in Gericht und Gnade erneuern. Das Gericht ist also, bei allem Schrecken, auf Zukunft und Leben ausgerichtet. Darum ist Rosch Haschana auch der Tag der Verheissung an Sara, sie werde übers Jahr schwanger werden (Gen 18) und der Tag der ersten Verlesung der Tora durch Esra (Neh 8). Das Volk hört die Worte der Weisung und macht sich das eigene Versagen ihnen gegenüber bewusst und weint. Esra tröstet das Volk und lädt zum Festmahl ein. So setzt man sich auch an Rosch Haschana freudig und in der Hoffnung auf ein gutes Jahr an den Tisch. Das Brot an diesem Tag ist rund, damit es im neuen Jahr an nichts fehlt. Zum Essen gehört ein Apfel, der in Honig getaucht wurde – mit der Bitte, Gott möge ein gutes und süsses Jahr schenken. Man isst vom Kopf (Rosch) eines Fisches oder Hammels und bittet Gott, dass heute ein Anfang und kein Ende sei. Der Gottesdienst an Rosch Haschana dauert lange und gestaltet alle Motive des Festes in mannigfaltiger Variation. Zu Rosch Haschana gehört auch das Taschlich-Machen, das Fortwerfen der Sünden. An einem fliessenden Gewässer, in dem Fische leben, werden alle Kleidertaschen ausgeschüttelt – Zeichen für die Hoffnung alle im Lauf des Jahres begangenen Sünden wegzuwerfen wie die Krümelchen in den Taschen. Die Fische mit ihren stets offenen Augen symbolisieren das wachsame Auge Gottes und dass die Menschen von Gottes Gnade umgeben sind wie die Fische im Wasser.
Die Stimmung an Rosch Haschana ist also geprägt von Furcht und Hoffnung gleichermassen. Die Hoffnung wird auch durch den Lesungstext aus Jer 31 gestärkt. Er setzt die leidvolle Erfahrung der Zerstörung Jerusalems und des Tempels und die Zerstreuung in der Fremde, das Exil voraus. Er verheisst die künftige Erlösung Israels und soll die Gemeinde am Tag des Gerichts stärken. Der Text bietet in Rahel, der Stammmutter des Volkes, eine Identifikationsfigur an. Sie ist untröstlich über den Tod und das Exil ihrer Kinder (31,15). Gott spricht sie an, versucht sie zu trösten und ihr Hoffnung für die Zukunft zu geben. Wie Rahel sollen die Menschen am Gerichtstag von Gottes Gnade hören. Blinde und Lahme, Schwangere und Gebärende werden besonders erwähnt (31,8). Vielleicht stehen sie sie für die Zerbrechlichkeit und Gefährdung, die allem Leben eigen ist.
Warum beginnen die Furchtbaren Tage mit Zeichen der Hoffnung und Verheissung? Darin kommt das jüdische Verständnis von Reue und Umkehr, hebräisch Teschuwa zum Ausdruck. Teschuwa kann nur beginnen, wenn sich Menschen noch nicht völlig aufgegeben haben. Wer das Gefühl hat, völlig wertlos zu sein, kann sich nicht auf den Weg machen. Wenn ich jedoch spüre, dass tief in mir noch Würde vorhanden ist, dass es immer noch einen Funken Heiligkeit in mir gibt, dann kann ich dieses Gefühl nutzen und damit die Umkehr beginnen. Die Mischna lehrt: «Werde nicht zum Bösewicht in deinen eigenen Augen» (Avot 2:13). Entscheidend ist meine Haltung mir gegenüber. Wer umkehrt, muss vorher feststellen: Ich bin ein Kind Israels. Ich habe einen König im Himmel. Ich bin ein Diener, eine Dienerin dieses Königs. Ich kann nicht behaupten, dass ich ein besonders guter Diener bin, aber immerhin: Ich bin Gottes Dienerin. Umkehr ist Rückkehr ins Volk Gottes.
Deswegen beginnen die Hohen Festtage nicht mit einem Sündenbekenntnis. Das würde die Menschen mit ihrer Wertlosigkeit überwältigen und die Umkehr geradezu verhindern. Nein, die Sünden werden vorerst beiseite geschoben. Rosch Haschana ist der Tag der (Neu-)Schöpfung. Er richtet den Blick auf die Potenziale und die Ziele im Leben. Der Verheissungstext von Jer 31 tut das konkret. Er baut Menschen auf (31,4), indem er ihre Möglichkeiten benennt: «Du wirst ausziehen im Reigentanz, du wirst Weingärten pflanzen ... und man wird sie in Gebrauch nehmen» (31,5).

Mit der Kirche lesen

Bartimäus, der blinde Bettler am Rand des Weges kommt in Bewegung. Es ist die Rückkehr eines Menschen am Rand in «etliches Volk», das weiterzieht (Mk 10,46). Ich sehe eine Teschuwa, eine Rückehr ins Volk Gottes. Sie beginnt mit der Feststellung: Ich bin ein Kind Israels, ein Diener Gottes. Ich kann nicht behaupten, dass ich ein besonders guter Diener bin, aber immerhin: Ich bin Gottes Diener. Vielleicht ruft der Sohn des Timäus Jesus zu: Du bist der Sohn Davids – genau wie ich. Und genau wie David und alle anderen Dienerinnen und Diener Gottes sind wir alle auf Erbarmen angewiesen. Dafür war Timäus blind geworden. Er will wieder sehen können, dass er immer noch ein Kind Israels ist. Ja, er hat das Potenziel in sich schon gesehen und weil er es gesehen hat, ist er in Bewegung gekommen. Sein Glaube an den barmherzigen Gott hat ihn gerettet. Das Vertrauen in diesen Gott wird ihn nicht vor weiterem Leid auf dem Weg der Nachfolge bewahren – wie Rahel nicht und wie Jesus nicht. Aber dieser Gott wird ihm immer wieder Trost und Hoffnung zusprechen.

Peter Zürn

«Mit Israel lesen " und «»Mit der Kirche lesen» heisst es seit drei Jahren Woche für Woche in der Schweizerischen Kirchenzeitung. Ein Projektteam der Bibelpastoralen Arbeitsstelle legt die Lesungstexte der Römisch-Katholischen Kirche für den entsprechenden Sonntag aus. Im Zentrum steht der alttestamentliche Lesungstext. «Mit Israel lesen» bedeutet, den Text in seiner Eigenwertigkeit wahrnehmen und nicht vom Neuen Testament bzw. vom Glauben an Jesus Christus her. Er soll aus der Geschichte Israels und als Teil der jüdischen Bibel verstanden und zugänglich gemacht werden. Ausserdem soll gezeigt werden, wie dieser Text im nachbiblischen Judentum, also z.B. in der Mischna und im Talmud, ausgelegt wurde und wie er bis heute im Judentum z.B. in der Liturgie beheimatet ist. «Mit der Kirche lesen» entwickelt aus dem Lesen mit Israel heraus Impulse für das Verständnis des Evangeliumstextes oder des entsprechenden Sonn- oder Feiertag im Jahreskreis. Die Artikel in der SKZ sind nur für Abonnentinnen und Abonnenten zugänglich. Die Auslegungen durch das Projektteam der BPA stehen aber auch – frei zugänglich – unter www.bibelwerk.ch.

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