Wir bringen die Bibel ins Gespräch

Ein Buch wie eine ganze Bücherei   

Peter Zürn über die Bibel in: ferment 1/2010

Wenn mein Sohn mich fragt, «Papa, was machst du eigentlich, wenn du zur Arbeit gehst?», dann antworte ich: «Ich lese mit anderen Menschen zusammen Geschichten aus einem dicken Buch». Das versteht Paul gut. Das machen wir zuhause ja auch oft. «Was ist denn das für ein Buch, das ihr da lest?» fragt er weiter. – «Es ist ein Buch, das eigentlich eine ganze Bücherei ist», erkläre ich, «ein Buch voller verschiedener Bücher.» – «Wie die Stadtbücherei?» – «Ja, die ganze Stadtbücherei in einem einzigen Buch. Es gibt darin Geschichten von Abenteuern, von Freundschaft und Feindschaft, es gibt Gedichte darin und Lieder, es gibt Regeln, wie Menschen miteinander leben können und Träume davon, was in diesem Leben alles möglich ist.» -

«Erzähl mir eine Geschichte», wünscht Paul sich dann. Und ich erzähle ihm die Geschichte von Moses, der eines Tages in der Wüste einen Dornbusch sieht. Der Dornbusch brennt, aber er verbrennt nicht. «Das ist toll!», ruft mein Sohn, «da könnte man immer bräteln und am Lagerfeuer sitzen.» «Ja, Moses brätelt zwar nicht, aber was er am Dornbusch erlebt, ist für ihn wie ein gutes Essen. Es gibt ihm Kraft und stärkt ihn. Irgendwann geht er wieder weg vom Dornbusch. Aber das Feuer wird ihn nie mehr verlassen. Es wird immer bei ihm sein und ihn auf allen seinen Wegen begleiten. Es ist wirklich ein Feuer, das brennt, aber nicht verbrennt.» -

«Dann braucht der Moses aber einen Schutzanzug und eine Atemschutzmaske wie die Feuerwehr, oder?» – «Ja, manchmal ist es ganz schön gefährlich mit diesem Feuer. Aber das, was dem Moses im Dornbusch begegnet ist, das zeigt sich in ganz verschiedenen Formen. Manchmal als Wolke, manchmal als Sturm, manchmal als Schweigen und Dunkelheit. Meistens aber zeigt es sich in der Gestalt von Menschen. Überall wird es sichtbar und oft kann Moses spüren, dass es da ist. Manchmal aber auch nicht. Und es bleibt immer ein Geheimnis, was oder wer es wirklich ist.» -

«Wer ist es denn?», fragt mein Sohn. – «Moses nennt es Gott. Und von Gott handeln eigentlich alle Geschichten der Bibel. In allen Geschichten geht es darum, ob die Menschen die geheimnisvolle Kraft Gottes in ihrem Leben sehen und spüren können. Ob sie dadurch gestärkt werden und Hinweise bekommen, wie sie leben sollen. Die ganze Bibel erzählt vom Leben der Menschen mit Gott. Manchmal sind sie glücklich miteinander und manchmal streiten sie sich. Manchmal ist es mühsam und manchmal ist es ganz leicht und wunderschön zusammen zu sein.» – «Wie bei uns», meint mein Sohn.

«Hat denn der Moses den Dornbusch wirklich gesehen oder ist die Geschichte erfunden», bohrt Paul nach. – «Beides», entgegne ich. «Es gab zu allen Zeiten Menschen, die dem Feuer, das brennt, aber nicht verbrennt, begegnet sind. Das gibt es auch heute noch. Auch ich bin ihm schon begegnet und du vielleicht auch. Und irgendwann hat jemand eine Geschichte über diese Erfahrung erzählt. Wer damit angefangen hat, weiss niemand mehr. Aber die Geschichte war gut. Sie wurde weitererzählt. Und wieder erzählt. Von Grosseltern für ihre Enkelinnen und Enkel. Am Lagerfeuer, beim Hüten der Schafe und beim Kochen.» Ich hole Luft.

«Ziemlich sicher wurde sie nach und nach noch ein wenig ausgeschmückt und verändert. Irgendwann bekam der Held der Geschichte einen Namen, er wurde Moses genannt. Moses heisst Sohn oder Kind. Moses ist das Kind in jedem Menschen. Das Kind, das mit offenen Augen und neugierig durch die Welt geht und geheimnisvolle Dornbüsche entdeckt, wo andere nur Gestrüpp sehen. Irgendwann haben die Menschen, welche die Geschichte gehört haben, eine Frage gestellt. Weisst du welche?» – «Wie geht´s weiter?» – «Ganz genau. Dann wurde die Geschichte weitererzählt. Andere Geschichten kamen dazu und so wuchs mit der Zeit eine grosse Erzählung. Später wurde sie dann aufgeschrieben. Aber auch dann wurde sie noch verändert. Sie wurde umgeschrieben und die Reihenfolge neu geordnet. Bis sie so aussah, wie sie heute in der Bibel steht.» Ich mache eine kurze Pause.

«An den Geschichten der Bibel haben also unzählige Menschen über lange Zeit mitgewirkt, Männer und Frauen und vermutlich auch Kinder mit ihren guten Fragen. Wenn wir die Bibel lesen, dann hören wir ihre Stimmen. Die Stimmen all der Menschen, die vor uns gelebt haben und die nach Gott in ihrem Leben gefragt haben.» – «Unsere Ur-mal-sieben-Grosseltern, wie in der Geschichte, die du mir neulich vorgelesen hast. Von dem Jungen, der entdeckt, dass er ein Nachkomme von Sarah Oort und Kaptn Kidd, dem Piraten, ist.» – «Ja, genau so. Der Junge findet geheimnisvolle Schatzkarten und löst zusammen mit seinen Freundinnen und Freunden das Rätsel um den Schatz von Kaptn Kidd. Und bei all dem lernt er einiges über sich und das Leben. Weisst du noch, wie die Geschichte aufhört?» – «Nein, nicht mehr genau.» – «Warte ich lese noch mal den Schluss: «»šDas war das beste Ende, das er sich für dieses erstaunliche Abenteuer vorstellen konnte. Und wenn er tatsächlich der Nachfahre eines echten Piraten war – dann fing das Abenteuer seines Lebens vielleicht erst an.´» -

«Und, was ist daran so wichtig?», fragt mein Sohn. – «Ich glaube, dass es beim Bibellesen genauso ist. Wenn wir die Geschichten in der Bibel lesen und entdecken, dass wir die Nachkommen der Menschen darin sind, dann fängt das Abenteuer unseres Lebens erst an. Und auch anderes passt zur Bibel: Sie gibt uns geheimnisvolle Wegweiser und Schatzkarten. Die sind oft ziemlich schwierig zu verstehen. Man muss seinen Kopf anstrengen dabei – wie George und seine Piratenbande. Zwischendurch gehen sie ja mal in die Bibliothek und suchen dort nach Hinweisen. Alleine schafft man das gar nicht. Die Bibel liest man am besten zusammen mit anderen. Jede und jeder sieht etwas anderes und kommt auf neue Ideen. Zusammen verstehen wir mehr. So wie an der Bibel viele verschiedene Menschen mitgewirkt haben, so sollten wir sie auch lesen: vielstimmig.» – «Das machst du ja bei deiner Arbeit, oder? Du liest mit anderen zusammen in der Bibel», sagt Paul. – «Ja, genau.»

Ich gehe am Tag nach diesem Gespräch ganz erfüllt zur Arbeit.

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