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Christoph Gellner (Hrsg.), «… biographischer und spiritueller werden». Anstösse für ein zukunftsfähiges Christentum   

Buch des Monats Juni 2009

«Die Situation ist paradox und schwer auf einen Nenner zu bringen: In der Gegenwartsgesellschaft ist sowohl ein Verschwinden als auch eine Wiederkehr des Religiösen zu beobachten. Es lässt sich sowohl ein Rückgang der Kirchenbindung als auch ein neu erwachter Drang zum Spirituellen ausmachen, eine neue Sehnsucht nach Religion», mit diesen Worten führt der Herausgeber im Einführungskapitel des Bandes seine Gegenwartsanalyse der Herausforderungen für Christentum und Kirche ein. Genau darum, um Analyse nämlich, geht es vor allem im ersten Teil des Buches, das Beiträge einer Tagung versammelt, die das Institut für kirchliche Weiterbildung IFOK letztes Jahr an der Universität Luzern organisiert hat. Weitere Themenbeiträge ergänzen die vorliegenden Überlegungen, Konzeptionen, Neuansätze und konkreten Praxisimpulse, die unter dem Motto «biographischer und spiritueller werden» Anstösse für ein zukunftsfähiges Christentum geben wollen.
Das Stichwort «biographischer» nimmt dabei ernst, dass heutzutage die sogenannte «Normalbiographie» in Auflösung begriffen ist (13). «Den eigenen Lebensweg finden heisst heute ..., eigene Deutungen finden und dem Weg beim Gehen einen eigenen Sinn abgewinnen: Warum gehe ich diesen Weg und keinen anderen? Warum bin ich hier umgekehrt und dort nicht weitergegangen? Welchen Sinn kann es haben, dass ich diese Schlaufe gelaufen bin?» (14). Christoph Gellner stellt fest: «Es gibt immer weniger allgemeingültige Antworten, wie Menschen ihr Leben gestalten und Krisen bewältigen können.» (ebd.) Die Arbeit an der eigenen Biographie wird unabdingbar, gerade weil die eigene Identität so vieldeutig und offen ist.
Das andere Stichwort «spiritueller» scheint vielleicht selbstverständlicher. Trotzdem bedarf es zunächst einmal einer Begriffsklärung im heutigen Markt der Möglichkeiten, bevor es Sinn ergibt, mit P. M. Zulehner eine «Respiritualisierung des kirchlichen Lebens» zu fordern. «Noch immer [nämlich] sind die spirituellen Quellen und mystischen Schätze der christlichen Kirchen vielfach unbekannt und wenig vermittelt, die Übungswege kaum beschritten und realisiert.» (13)
Judith Könemann führt im ersten Themenbeitrag aus, warum sie meint, dass die heute gewandelte Bedeutung der Biographie zentraler Bezugspunkt der Religion sein müsse. Das hat vor allem damit zu tun, dass im Zuge der Individualisierung nicht nur ein hoher Freiheitsgewinn für den Einzelnen gekommen ist, sondern auch eine höhere Verantwortlichkeit zu bewältigen ist. Wo nicht mehr die Kirche einfach den Rahmen für die Biographie vorgeben kann, sondern auf die Zustimmung ihrer Mitglieder angewiesen ist, muss sich auch ihre Aufgabe verändern. Sie wird zunehmend solche Deutungsprozesse der eigenen Biographie begleiten müssen und kann (und sollte) nicht mehr wie früher durch ihre eigene normierende Kraft den Einzelnen von dieser Deutungsleistung «befreien» (39). «Christentum und Religion müssen [deshalb] noch mehr als früher schlüssig begründen und plausibel machen, warum es sinnvoll ist, sich an Religion im allgemeinen und an die christliche Religion im besonderen zu binden. (...) Das heisst: Eine christliche Theologie und eine kirchliche Praxis, die an die moderne Lebenswelt angeschlossen sein will, ist vom Subjekt her zu formulieren.» (40) Diese Verbindung von Orientierung am Subjekt mit der christlichen Botschaft ist auch deshalb von so hoher Bedeutung, «weil sich ... Deutungen der subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen nicht ausschliesslich aus sich selbst speisen können. Sie sind vielmehr auf die Auseinandersetzung mit von aussen kommenden Interpretationsmöglichkeiten angewiesen.» (41)
Christiane Bundschuh-Schramm plädiert deshalb im folgenden Beitrag für eine spirituelle Anleitung dazu, wie die christliche Botschaft im Leben des Einzelnen verortet werden kann. Sie nennt das in ihrer Überschrift «ein Gespür für Religion wecken, Geschmack auf Gott machen.» (45) Mit anderen konstatiert sie zunächst einmal eine Sprachlosigkeit professioneller SeelsorgerInnen, die es oft nicht schaffen, die theologischen Gehalte z. B. der einzelnen Kasualien so zu vermitteln, dass sie von den Betreffenden auch verstanden werden können. Wenn es aber tatsächlich stimmen sollte, wofür alles spricht, dass die zukünftige Frömmigkeitsform der Kirchenmitglieder die «Kasualienfrömmigkeit» sein wird, ist solche Sprachlosigkeit ein Alarmsignal! Die Autorin, seit Jahren in der Fort- und Weiterbildung kirchlicher Mitarbeitender tätig, legt aus ihrer reichen Erfahrung fünf Handlungsoptionen für ein zukunftsfähiges Christentum dar: Zunächst einmal müsse die Institution Kirche «das Institutionelle zurückfahren» und den «defizitären Blick vermeiden». «Denn wer die institutionellen Standards nicht erfüllt, gilt schnell als defizitär und wird entsprechend behandelt.» (50) Wenn aber wirklich das Ziel sein soll, «bei Menschen ein Gespür für Religion zu wecken [und] ihnen Geschmack auf Gott zu machen», dann muss dies «ohne institutionelle Hintergedanken und ohne Kommunikation von oben herab» geschehen. (51) Eine weitere Option nennt sie «den inkarnatorischen Blick als Grundprinzip des Christlichen entdecken» und spitzt zu: «Gehen professionelle SeelsogerInnen mit dem binnenkirchlichen Blick durch die Welt und wollen Menschen integrieren oder gehen sie mit dem inkarnatorischen Blick durch die Welt und helfen Menschen, Gottes Spuren in ihrem Alltag, in ihren Hochzeiten und in ihren Krisen zu entdecken und zu symbolisieren?» (51) «VerkündigerInnen heute müssen FahnderInnen werden nach dem Gottespotenzial in allen gesellschaftlichen Prozessen und von ihren Fahndungserfolgen sprechen lernen.» In diesem Zusammenhang macht die Autorin auf die (durch die Sinusstudie belegten) erschreckenden Defizite der kirchlich Engagierten im Wissen um die Sorgen und Probleme der Mehrheit der Mitglieder der eigenen Gesellschaft aufmerksam. In diesem Punkt hat die institutionelle Kirche in ihrer Abwehr der Befreiungstheologie in Mitteleuropa wirklich ganze Arbeit geleistet! Weitere Optionen der Autorin sind die Elementarisierung des Glaubens (53), das Anbieten von Transformation an «biographischen Orten des Übergangs und der Störung» und die Förderung der spirituellen Kompetenz bei professionellen Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Dabei hat Spiritualität «die reifere, erwachsenere und freiere Persönlichkeit zum Ziel und meint keine vorgegebene Glaubensleistung ... Spiritualität ist insofern immer subjektiv, aber nicht subjektivistisch, steht sie doch in Auseinandersetzung mit den geronnenen Glaubenserfahrungen der christlichen Vorfahren.» (59)
Nach diesen beiden grundlegenden Beiträgen, warum das Christentum «biographischer und spiritueller werden» müsse, folgen breit gefächerte Beiträge aus der jeweiligen Praxis, deren Inhalte ich hier aus Platzgründen nur andeuten kann:
Vreni Merz gibt in ihrem Beitrag «Anreize zur religiösen Erziehung in den ersten Lebensjahren» und sieht die Tatsache, dass heutige Eltern in religiöser Hinsicht meist genauso am Anfang stehen wie ihre Kinder, als günstige Ausgangslage, ihnen Anregungen für eine spirituelle Praxis in der Familie und für die religiöse Erziehung in den ersten Lebensjahren zu vermitteln [das Gegenteil des «defizitären Blicks»! s. o.].
Bernd Waldmüller berichtet aus seinen Erfahrungen mit biographisch orientierter Männerarbeit. Diese Pastoral muss eine begleitend mitgehende sein, eine gemeinsame Suche «auf Augenhöhe». Wenn dies aber gelingt, können die Sehnsüchte, Fragen und Lebensgeschichten der Männer Ausgangspunkt werden für die Auseinandersetzung z. B. mit biblischen Bildern des Menschseins bzw. Mannseins. (97) Dadurch dass Kirche und Theologie seit langem patriarchal sind, sind sie nämlich «noch lange nicht männerspezifisch oder gar männerfreundlich»! (83)
Gerade diese Auseinandersetzung von eigener Biographie mit biblischen Lebensentwürfen will Bibliodrama. Claudia Mennen erläutert den speziellen Ansatz des Bibliodrama-Modells von Andriessen/Derksen, das sich wesentlich als Zugang zur Glaubenskommunikation versteht. Geradezu spannend lesen sich in diesem Beitrag die Erfahrungen von Teilnehmerinnen am Bibliodrama, deren eigene Lebensgeschichte im Bibliodrama neu gedeutet werden konnte, sodass für viele auch ihre Zugehörigkeit zum Raum der Kirche wieder neu erfahren wurde.
Theres Spirig-Huber, selbst Supervisorin und Exerzitienbegleiterin, legt in ihrem Beitrag den Finger auf ein Hauptproblem: Wie soll zu Spiritualität angeleitet werden von Menschen, die im eigenen Seelsorgeteam keine spirituellen Erfahrungen machen, geschweige denn miteinander teilen. Sehr behutsam wirbt sie für die Entwicklung einer Spiritualität im Seelsorgeteam: «Damit eine spirituell geprägte Teamkultur entstehen und wachsen kann, braucht es Zeit und Bereitschaft für einen offenen Begegnungsprozess in Richtung ,Nachfolgegemeinschaft von Gleichgestellten’ ... Das ist ein hoher Anspruch für ein Seelsorgeteam» (126). Fürwahr!
Den Abschluss des absolut lesenswerten Bändchens bildet ein Beitrag des Herausgebers: «Heute eine Sprache des Glaubens finden». Gellner konstatiert nämlich (wie viele andere) heute eine erschreckende Krise der religiösen Sprache. Er gibt deshalb Impulse aus der Gegenwartsliteratur in der Hoffnung, dass dadurch vielleicht eine neue kulturelle Sprachkompetenz des Christlichen zu gewinnen sei. Diesem Wunsch kann ich mich als Rezensent und oftmals «Opfer» kirchlicher Sprachverirrungen nur anschliessen!

Dieter Bauer

Christoph Gellner (Hrsg.), «… biographischer und spiritueller werden». Anstösse für ein zukunftsfähiges Christentum, (Edition NZN bei TVZ) Zürich 2009, 175 S., Pb., 24,00 EUR[D], 24,70 EUR[A], 36,00 CHF UVP ISBN 978-3-290-20052-7

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