Wir bringen die Bibel ins Gespräch

Tora und Heiliger Geist   

Detlef Hecking zu den Pfingstlesungen als Relecture des jüdischen Wochenfestes (Schawuot) – SKZ 21/2014

 

Ab und zu wird festgestellt, dass Pfingsten ein «vergessenes» oder verkanntes Fest ist. Die berührend-bestürzende Erfahrung lebendigen, schöpferischen Wirkens der göttlichen Geistkraft gehört nicht unbedingt zu den Kernerfahrungen unserer Grosskirche(n). Und wenn Geisterfahrungen z. B. in Pfingst- oder Freikirchen erklärtermassen im Zentrum stehen, wirft das bei vielen Menschen zu Recht die Frage auf, ob da nicht eine gehörige Portion Inszenierung oder bewusst gesuchte «Begeisterung » im Spiel ist. Doch Pfingsten hat genau damit zu tun: mit der kreativen, öfters auch verwirrenden Gegenwart des Heiligen Geistes, mit der Erfahrbarkeit lebendigen göttlichen Wirkens, die Pläne durcheinanderbringen und vieles umstürzen kann. Die Lesungstexte des Pfingstwochenendes leuchten solche Erfahrungen aus. Sie skizzieren eine christliche Geisttheologie, einen vielstimmigen Chor biblischer Geisterfahrungen und -interpretationen. Diese Fülle erschliesst sich aber erst, wenn alle Lesungstexte in einer Gesamtschau in den Blick genommen werden – vom Vorabendgottesdienst am Pfingstsamstag bis zum Pfingstmontag. Natürlich muss dann eine pastoral sinnvolle Auswahl getroffen werden. Doch der Überblick über alle Textvorschläge der Leseordnung kann selbst erfahrene Predigerinnen und Prediger zu neuen Verknüpfungen motivieren.

Apg 2: Ausgangspunkt für eine gesamtbiblische Geist-Theologie

Als Ausgangspunkt für diese biblische Reise bietet sich Apg 2 an. Der klassische Pfingsttext (1. Lesung der Pfingstmesse) verweist von den ersten Worten an auf den kraftvoll nährenden jüdischen Mutterboden, in dem gerade dieses Ursprungsfest der Kirche zutiefst verwurzelt ist. Der von Lukas erwähnte «Pfingsttag», der sich hier nach Apg 2,1 «erfüllt », hat natürlich nichts mit dem Pfingstfest christlicher Prägung zu tun, wie wir es heute verstehen. «Pfingsten» bezeichnet in der lukanischen Erzählung vielmehr das jüdische Wochenfest (Schawuot), das bis heute 50 Tage nach Pessach gefeiert wird und an die Gabe der Tora am Sinai erinnert. Damit ist zugleich eine der zahlreichen Pointen der Erzählung benannt: Die Jüngerinnen und Jünger feiern in Jerusalem die Gabe der Tora – und empfangen bei diesem Fest die heilige Geisteskraft, die ihnen ein neues Verständnis der Tora und auch ein neues Zusammenleben untereinander erschliesst. Die Urstunde der Völkerkirche ist so zunächst eine Aktualisierung des Toraempfangs am Sinai. Da der christliche Sprachgebrauch des Wortes «Pfingsten» jedoch derart eigenständig geworden ist, dass der grundlegende Zusammenhang mit dem jüdischen Wochenfest nur noch Spezialistinnen und Spezialisten auffällt, empfiehlt es sich, dies ausführlich zu thematisieren.

Aufhebung, aber nicht Umkehr der «babylonischen Sprachverwirrung» (Gen 11)

Wenn man Menschen danach fragt, ob sie die Erzählung vom Sprachenwunder in Apg 2 an andere biblische Geschichten erinnert, wird oft der Turmbau zu Babel genannt (Gen 11). Die Leseordnung stellt Gen 11 als eine von vier (!) ersten Lesungen des Vorabendgottesdienstes zur Auswahl. Die gesamtbiblischtheologischen Zusammenhänge sind beeindruckend: Das pfingstliche Sprachenwunder löst die Probleme, die die babylonische Sprachverwirrung geschaffen hat – aber es führt nicht zum vorbabylonischen Zustand zurück. Wunderbar an Pfingsten ist, dass sich Menschen nicht einer Einheitssprache oder Globalisierung unterwerfen müssen, sondern in ihrer je eigenen, persönlichen Sprache angesprochen fühlen (Apg 2,8). Die Lösung menschlicher Verständigungsprobleme liegt in der Würdigung der Vielfalt und Vielstimmigkeit, die das Leben auf der Welt nun einmal prägt.

Joël 3: Endzeitliche Geistausgiessung, grenzenlos

Leider bricht die Leseordnung die Lesung aus Apg 2 gerade dort ab, wo es besonders spannend wird. Sie lässt damit die Menschen in Jerusalem mit ihrer Frage nach der Bedeutung des Ganzen nicht mehr zu Wort kommen (2,12) – und auch Petrus nicht, der das Geschehen aus prophetisch-eschatologischer Perspektive deutet (2,14 ff.). So kann der Eindruck entstehen, als gehe es «nur» um einen «Faktenbericht ». Für Petrus (und Lukas) ist hingegen die Deutung des Geschehens entscheidend: «Jetzt geschieht, was durch den Propheten Joël gesagt worden ist» (Apg 2,16). Die Leseordnung schlägt Joël 3,1–5 deshalb als Lesung für den Vorabendgottesdienst vor: «Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgiesse über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen. Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgiessen in jenen Tagen» (Joël 3,1 f.; zitiert in Apg 2,17 f.). Was bedeutet es für Lebens-, Glaubens- und Kirchenpraxis, wenn am Anfang unserer Kirche die Erfahrung steht, dass ausnahmslos alle Menschen von Gottes Geist durchtränkt sind, prophetische und visionäre Fähigkeiten haben – unabhängig von Besitzstand und Ausbildung, Alter oder Geschlecht?

Pfingsten: Aktualisierung der Tora-Gabe am Sinai (Ex 19)

Hör-, Sprachen- und Flammenwunder, wie sie in Apg 2 begegnen, werden in frühjüdischen und rabbinischen Quellen häufig mit dem Geschehen am Gottesberg Sinai in Verbindung gebracht. Eine Rabbi Jochanan zugeschriebene Tradition (ca. 250–290 n. Chr.), die aber wohl ältere Traditionen aufgreift, erzählt vom Empfang der Tora am Sinai: «Die Stimme ging aus und teilte sich in 70 Stimmen nach den 70 Sprachen, damit alle Nationen sie vernehmen sollten. Jede Nation hörte die Stimme in der Sprache ihrer Nation.» Letztlich gehen diese legendenhaften Traditionen auf die eindrucksvollen Erzählungen vom Sinai selbst zurück (z. B. Ex 19,18 f), die die Leseordnung in einem Ausschnitt aus Ex 19 als eine weitere der ersten Lesungen für den Vorabendgottesdienst vorsieht. Lukas scheint diese legendenhaften Traditionen gekannt zu haben. Indem er sie mit dem Pfingstgeschehen verknüpft, kennzeichnet er die Geisterfahrung der Jerusalemer Urgemeinde als Aktualisierung der Tora-Gabe am Sinai. Die Kirche fällt nicht vom Himmel – die Urstunde der Kirche ist unaufgebbar an die Urerfahrung Israels mit der Tora gebunden.

Von Ezechiel bis Johannes

Die weiteren Lesungen der Pfingstgottesdienste spannen nochmals neue, kreative Bögen. Ez 36 (Pfingstmontag) verheisst ein neues Herz und einen neuen Geist (Ez 36,26), und Ez 37 (wiederum Vorabend) erzählt gleichnishaft von der lebensstiftenden, schöpferischen, göttlichen Geistkraft, für die nicht einmal der Tod eine Grenze darstellt. Als Psalmlesungen sind das geistvolle Schöpfungslied in Ps 104 sowie das völkerverbindende Loblied in Ps 117 vorgesehen. Die neutestamentlichen Lesungen lassen dann Paulus zu Wort kommen: Röm 8,22–27 (Vorabend) stellt erneut Bezüge zur Schöpfung her, aber auch zum Geist, der sich als göttliche Erstlingsgabe unserer menschlichen Schwachheit annimmt. 1 Kor 12 (Sonntag) bindet u. a. das Bekenntnis zu Christus als «Herr» an eine Geisterfahrung (12,3). In Eph 4 (Montag), einem Brief aus der Paulusschule, fällt das Bekenntnis zur Einheit im Geist schon etwas weniger vielstimmig aus als bei Paulus selbst. Apg 10 (Sonntag) erzählt davon, dass der Geist auch nichtjüdische Menschen erfüllt, ohne dass sie zuvor durch Beschneidung zum Judentum konvertiert wären. Und die Evangeliumstexte schliesslich bringen zentrale Geisttexte aus dem Johannesevangelium. Pfingsten bietet die grosse Chance, gesamtbiblische Geisttheologien zu entwickeln und aufzuzeigen, wie sehr der Geistempfang, den wir oft als spezifisch christlich-kirchlich verstehen, in der kostbaren Erfahrung Israels mit der Tora wurzelt. Wenn das gelingt, wiederholt und aktualisiert sich das Jerusalemer Sprachenwunder einmal mehr.

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