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Tomáš Halík, Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung   

Buch des Sommers

Zugegeben, nach dem Titelbild hätte ich das Buch nicht gekauft und gelesen. Von weihrauchumwölkten, ins Gebet versunkenen, einsamen Priestern am Altar erwarte ich mir, ich gebe es zu, nicht viel. Aber der Name Tomáš Halík spricht mich an, seit ich im Februar 2012 schon einmal ein Buch von ihm als Buch des Monats besprochen habe: «Geduld mit Gott. Die Geschichte von Zachäus heute». Damals war der biblische Bezug schon im Buchtitel klar. Mit Zachäus ging Halík auf die Suche nach «Gott in der Perspektive von Suchenden, Zweifelnden, Fragenden». Und ich erfuhr das, so habe ich damals geschrieben, «als herausfordernde Einladung für eine biblische Beseelung der Pastoral, die gewohnte Wege verlässt und «heiligen Boden» an ganz unerwarteten Orten findet». Der biblische Bezug war mir beim neuen Buch Halíks nicht sofort erkennbar. Aber er erschloss sich sehr schnell. Es geht dieses Mal um Thomas, genannt der Zwilling oder auch der Ungläubige, der in Joh 20,24-29 die Wunden des Auferstandenen berührt und so Gott erkennt. Er wird in diesem Buch zum Modell und Vorbild eines religiösen Lebens und theologischen Denkens, das bereit ist, Wunden zu berühren, ja das Verwundete und Verwundetes in die Mitte stellt und sich danach ausrichtet. «Mein Gott ist der verwundete Gott» bekennt Halík (15). Ja, Wunden sind die «einzige Stelle, an denen der Suchende und der Zweifelnde wirklich Gott berühren kann … Dort, wo du das menschliche Leid berührst – und vielleicht nur dort! – dort erkennst du, dass ich lebendig bin, dass «Ich es bin» (17.22). Das hat Konsequenzen: «Ich glaube nicht mehr an unverwundete Religionen» (13). Das ist ein Gegenentwurf gegen alle Selbstherrlichkeit und von sich selbst abgespaltene Verteufelung anderer. Denn es geht Halík nicht nur um die Verwundungen anderer, so wichtig die sind, sondern auch um die eigenen Wunden. Mit Gregor dem Grossen fasst Halík die Bedeutung des biblischen Thomas zusammen: «Zum Glauben nützt uns der Unglaube des Thomas mehr als der Glaube der glaubenden Jünger» (21).

Ein Grossteil des Buches ist wieder, wie schon die vorhergehenden, in der Einsiedelei eines kontemplativen Klosters entstanden. Insofern passt das Titelbild mit dem ins Gebet versunkenen Priester. Von dem ist doch mehr zu erwarten als ich dachte. Er ist ja, Gott sei Dank! auch ein Teil von mir. Die Kontemplation und die Liturgie sind in diesem Fall der Raum, in dem Erfahrungen nachklingen und Zusammenhänge und Bedeutungen entstehen. Es sind Erfahrungen beim Reisen nach Indien und Jerusalem und Auschwitz, Erfahrungen beim Lesen vor allem von Nietzsche und anderen atheistischen Denkern, aber auch von Simone Weil, Erfahrungen als Untergrundpriester in der Tschechoslowakei und als Prälat in Rom. Aus der Kontemplation im Jahr 2008 sind 14 kleine Texte entstanden, die um die Erkenntnis Gottes in der Berührung von Wunden kreisen – und die dabei eine christliche Theologie des paradoxen Denkens entwickeln: «Gott erscheint unter seinem Gegenteil … er ist verborgen in den Paradoxa» (67). Dieses Denken eignet sich sogar das zen-buddhistische Koan an: «Wenn du Christus begegnest, töte ihn!»

So entsteht ein grosser Raum der Freiheit und der Verantwortung, von Gott bzw. falschen Gottesbildern verlassen, um Gott/Christus in der Tiefe der Wirklichkeit entdecken zu können, als radikales Geheimnis.

Der Apostel Thomas ist der verkörperte rote Faden durch das Buch. Aber Halík liest mit Thomas in der ganzen Bibel. Gott, der seine Wunden zeigt, ruft Gott, der sich im brennenden Dornbusch zeigt, wach. Auferstehung ist mit Pessach, d.h. der Erinnerung an den Exodus verbunden. Mehr noch: Halík liest über die Grenzen des Kanon hinaus und schaut auch in die apokryphen Evangelien, die er «Dokumente der Frömmigkeit bestimmter Gemeinden des frühen Christentums» nennt (91).

Was das Buch noch bietet:

-          eine wegweisende Neuinterpretation der Legende um Kaiser Konstantin, der das Zeichen in dem er siegen sollte, falsch verstand mit einer überraschenden Verbindung zu Albert Speer (103ff.)

-          eine Einladung zum Nietzsche-Lesen ohne verstopfte Ohren, aber an den Mast des Kreuzes gebunden wie Odysseus (113ff.)

-          einen augenöffnenden Blick auf die enge Verbindung von Auferstehung und Vergebung – nach Joh 20

-          eine kleine Theologie des Fürbittgebetes als «Gespräch mit Gott über das Leid der Anderen» (130) mit einem Gebet für Maddona (146f)

-          eine Liebeserklärung an Jan Hus und zugleich eine Warnung vor moralischem Idealismus (160ff)

-          eine überraschende Umkehrung der Bedeutung des des Satzes «extra ecclesiam nulla salus»: Wo Heil ist (d.h. wo Gott heilsam wirkt), ist Kirche.

-          Eine theologische Meditation über Ikonen und über Veronika, ausgehend vom Paradox zwischen Thomas, der die Wunden Jesu berühren kann und Maria von Magdala, die ihn nicht festhalten soll. Das wahre Bild Gottes findet sich – mit Emmanuel Levinas – in der Nachfolge im Gesicht des/der Anderen

Das Buch schliesst mit der Frage: «Wo sind die Verbandplätze unserer Welt?» und findet sie: «überall um uns herum» (209). Der erste Schritt zur Heilung der Wunden der Welt ist für Halik «unsere Umkehr, Busse, Demut – oder profan gesagt: der Mut zur Wahrheit über uns selbst». Ohne sie zu nennen, greift er hier Überlegungen Hannah Arendts auf, die in der Fähigkeit zu vergeben – neben der Fähigkeit zu versprechen – die Grundlage des menschlichen Handelns sah. Im aktuellen «Dossier: KlimawandelW der Zeitschrift reformiert (71/2013), nennt der Ethiker Dominic Roser den Klimawandel «Das schwierigste ethische Problem seit 3000 Jahren» und sieht einen entscheidenden Beitrag der Theologie dazu, denn: «Die säkulare Welt ist nicht an die Idee gewöhnt, dass unser Alltag schuldbeladen sein könnte … das Christentum … dagegen … zeigt konstruktive Wege, wie wir mit Schuld umgehen können. Wir können sie anerkennen, uns davon befreien lassen und guten Mutes versuchen, unser Verhalten zum Guten zu ändern.» Was nicht angenommen ist, kann nicht erlöst werden, aktualisiert Halik einen Satz der Kirchenväter und übersetzt: «Ich darf meine Wunden haben!» Und ich darf Wunden berühren und mich von Berührungen heilen lassen.

Peter Zürn

 

Tomáš Halík, Berühre die Wunden. Über Leid, Vertrauen und die Kunst der Verwandlung, Freiburg im Breisgau 2013, 240 S., ISBN 978-3-451-30739-3, Euro 19.99, CHF 28.90

 

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