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Vom Häuser fressen und Leben geben   

Ursula Rapp zum Evangelium am 32. Sonntag im Jahreskreis (11.11.): Mk 12,38–44, SKZ 43/2012

Wieder einmal prangert ein biblischer Text die Ausbeutung der Ärmsten an, wieder wird uns vor Augen geführt, wie sehr auch diejenigen, von denen man landläufig meint, sie seien «gute» Menschen, in soziale Ungerechtigkeit verstrickt sind. Wieder geht es darum, gutes und erfülltes Leben für alle zu suchen.

Was in den Schriften steht

Das Evangelium ist in zwei Teile geteilt. Deshalb meint die Leseordnung, dass es möglich ist, einen Teil, nämlich die ersten drei Verse, wegzulassen. Dort geht es um Jesu Kritik an den Schriftgelehrten, die sich gern in «langen Gewändern» zeigen, auf Marktplätzen gegrüsst werden wollen und die Ehrenplätze in Synagogen und bei Gastmählern einnehmen wollen. Hierzu sei bemerkt, dass Gastmähler in der griechisch-römischen Antike weit mehr gesellschaftliche Bedeutung hatten, als dies heute bei uns der Fall ist. Ein Ehrenplatz war ein festgesetzter Platz, der seinem Inhaber wirkliches Ansehen sowie soziale und ökonomische Vorteile brachte. Wenn Schriftgelehrte solche Wertigkeiten verfolgen, fragt sich, wie sehr sie ihre Schriftauslegung an den mitmenschlichen, sozialen Werten der Tora ausrichten und/oder ob nicht eher die eigenen Wohlstandsinteressen im Vordergrund stehen. Mit der Kritik an den ruhmsüchtigen schriftgelehrten Männern und Frauen setzt Markus uns eine Brille für die folgende Szene auf. Beide Szenen spielen ja im Tempel. Als Jesus die Schriftgelehrten kritisiert, sitzt er im Tempel (siehe V. 35), und die Szene beim «Opferkasten» findet ebenso im Tempelbereich statt. In beiden Szenen geht es um sichtbare Zeichen der Frömmigkeit und um den unsichtbaren inneren Anteil frommen Lebens. Ausserdem werden in beiden Szenen armgemachte und arme Witwen erwähnt. Die Szene erinnert an Jesu Wut bei der Tempelreinigung, die Markus bereits im Kapitel davor (11,15–17) erzählt hat. D ie langen Gewänder sind Festtagskleider (Judit 10,7), Gewänder, die man am Hof trägt (Ester 6,8), wie Josef sie vom Pharao geschenkt bekommt (Genesis 41,14) oder wie Priester sie im Heiligtum tragen (Exodus 35,19; Jesus Sirach 50,11). Sie gehen also in den schönsten, vielleicht modernsten Kleidern mit dem feinsten Schnitt, in edlen Stoffen. Man sieht ihnen das Teure an, den Schriftgelehrten. Weiter heisst es, dass sie die Witwen «um ihre Häuser bringen». Der griechische Text ist da viel plastischer. Er sagt, sie verschlingen die Häuser der Witwen. Es ist ein reissendes Essen oder besser Fressen, das da gemeint ist. Heuschrecken verhalten sich so bei der Plage Ägyptens (Exodus 10,5.12.15), das Wegfressen zählt ebenso zu den angekündigten Folgen für den Fall, dass Israel sich nicht an den Bund mit Gott hält (Deuteronomium 28,38.39.51.57) wie das Verzehren durch Feuer (Levitikus 10,2; Richter 9,15; Amos 1,4 ff.; Ijob 1,16). Der Aspekt des unrechten Wegnehmens steckt auch darin. So werfen Lea und Rahel ihrem Vater vor, er habe sie um ihre Mitgift gebracht (Genesis 31,15; Jeremia 5,15). Immer hat dieses Verschlingen etwas Radikales, Unrechtes, Gieriges und Gewalttätiges an sich, und es lässt nichts übrig. So gehen Schriftgelehrte um mit dem Besitz der klassischen Armen und Rechtlosen Israels, der Witwen, deren Überlebensrechte durch etliche Gesetze der Tora geschützt sind, genauso wie die Rechte der Waisen (z. B. Exodus 21,22; Deuteronomium 14,29). Sie zerstören die Rechte, das Eigentum und das Leben dieser sozial schwachen Frauen, um sich selbst zu bereichern. Während Jesus die Schriftgelehrten kritisiert, weist er seine Jüngerinnen und Jünger auf eine solche ganz arme Witwe hin, die Geld in den «Opferkasten» wirft. Die Übersetzung «Opferkasten» in der Einheitsübersetzung klingt ein wenig nach dem Opferstock in christlichen Kirchen. Es ist auch etwas Ähnliches gemeint, nur in einem anderen Ausmass. Im Ersten Testament bezeichnet der Begriff die Schatz- und Vorratskammern des Tempels. Die Schätze darin waren unantastbar für Menschenhände, sie waren Gott geweiht, die Vorräte wurden für die Priester, die ja kein Land und keinen Verdienst hatten (Nehemia 10,38.39; 12,44), zurückgelegt. Manchmal wurden diese Kammern auch als Wohnräume verwendet (Esra 10,6). Man legt dort also etwas zurück für die Priester und ihre Familien. Man wirft zurzeit Jesu Geld hinein, aber «Opfer» ist für unsere christlich geprägten Ohren wahrscheinlich ein zu stark theologischer Begriff. Als Opfer brachte man Tiere, aber nicht Geld. Für dieses Geld verwendet der Text zwei verschiedene Begriffe: Die Leute werfen «chalkos» (Geld) ein, was eigentlich «Kupfer» bedeutet. Die arme Witwe wirft zwei «Lepta» ein. Das Wort bezeichnet Mageres, wie die mageren Kühe im Traum des Pharaos, den Josef deutet (Genesis 41,3 ff.). «Mager» oder eher «fein» war auch das Manna in der Wüste (Exodus 16,14) oder für den Weihrauch zermahlene Körner (Exodus 30,7.36). Sie warf also eine feine, dünne Münze, evtl. eine Kupfermünze, hinein. Zur Erklärung wird noch hinzugefügt, dies habe den Wert eines «Quadrans», was auch sehr wenig ist. Es ist also wenig, aber es ist alles, was sie hat. Jesus lehrt die Jüngerinnen und Jünger, dass sie mehr gegeben hat, denn sie hat nicht aus dem Überfluss, sondern aus dem Mangel gegeben, und sie hat alles gegeben. Man übersetzt gern mit «den ganzen Lebensunterhalt». Man kann auch übersetzen, sie hat ihr ganzes Leben gegeben, denn im griechischen Text steht «holon ton bion autes», das heisst: ihr ganzes Leben. Das ist nicht spirituell zu verstehen, wir haben es die ganze Zeit mit materiellen Themen zu tun: die ausbeuterischen Schriftgelehrten in den noblen Kleidern, die Reichen, die viel in die Vorratskammern werfen. Es ist ganz materiell gemeint: Die arme Frau gibt den letzten Rest, der ihr noch geblieben ist. Vielleicht gibt sie ihn lieber selbst in den Tempel, bevor ihr der auch noch genommen wird – vielleicht durch die Schriftgelehrten genommen wird. Vielleicht gibt sie alles Gott, weil sie den Glauben in eine gerechte Aufteilung unter den Menschen schon verloren hat. Sie gibt tatsächlich ihr Leben, denn jetzt hat sie nichts mehr zum Leben. Welcher Wahnsinn steckt d a d ahinter? W as e rwartet s ie? B etteln, Hunger und Tod, wahrscheinlich noch radikalere Ausgrenzung als bisher. Aber wenigstens hat dies einen Schimmer von dem Gefühl, es selbst bestimmt zu haben und dies Gott gegeben zu haben, nicht gierigen Menschen.

Mit Markus im Gespräch

Hier spitzt sich was zu, braut sich was zusammen. Man spürt Jesu Entsetzen und Wut beim Lesen – oder kommt sie nur in einem selbst auf? Weil man das ja nur zu gut kennt, die Scheinheiligkeit und die Eigeninteressen der religiösen Führer und Gelehrten und die Ausbeutung der Ärmsten? Markus jedenfalls scheint diese Wut in uns schüren zu wollen. Wut ist ein hilfreicher Antrieb, um Negatives in unserem Leben zu ändern. D ie Frage ist auch: Auf welcher Seite steht man da als Leserin/Leser eigentlich? Auf der der Reichen oder der der armen Witwe? Oder in manchen Zusammenhängen da, in anderen dort? Und wer ist heute so ver-rückt und gibt sein letztes Geld, seine letzte finanzielle Sicherheit, müsste man sagen, in den Tempel, Gott?