Wir beraten

Gott mit aller Macht lieben   

Katharina Schmocker Steiner zum 31. Sonntag im Jahreskreis: Mk 12,28b–34, SKZ 42/2012

 

Das Jenseits, das Leben nach dem Tod, scheint uns Menschen immer wieder brennend zu interessieren. Jede Kultur und Religion kennt ihre Vorstellungen vom Paradies, Bücher und Berichte von Nahtoderfahrungen finden grösste Beachtung. Die Ägypter liessen sich mumifizieren, und einige unserer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen lassen sich einfrieren, um ihre Körper wohlbehalten ins Jenseits zu retten. Selbst gegenwartsbezogene atheistische Existentialisten wie Sartre setzten sich mit dem Thema auseinander wie in Les Jeux sont faits oder L’enfer c’est les autres. Einige z. B. griechische Philosophen erklärten andererseits, dass der Mensch sich vor dem Tod nicht zu fürchten brauche, weil: Solange er lebt, ist der Tod nicht, und wenn er tot ist, ist der Mensch nicht. Andere, wie die Sadduzäer in Mk 12,18–27, suchen mit (scheinbar) logischen Gedankenkonstrukten sogar zu belegen, dass es ein Leben nach dem Tod gar nicht geben kann. Doch entscheidend ist: Es gibt ein Leben vor dem Tod, das es zu gestalten gilt.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

«Höre Israel, Herr [ist] unser Gott, ein [einziger] Herr ist er», oder: «Höre, Israel, (der) Herr unser Gott ist einziger Herr», oder: «Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.» Was also steht in den Schriften? Dass Gott allein Herr ist, oder dass nur ein Gott ist, oder dass Gott einer ist? Der von Jesus zitierte Vers aus Dtn 6,4 lässt einigen Spielraum zur Interpretation. Hinsichtlich der soziokulturellen Umgebung könnte der Zielpunkt der Aussage die Abgrenzung zu den griechischen Göttern des Olymps bzw. zum römischen Pantheon sein. Dies lässt wiederum zwei Deutungen zu. Entweder soll betont werden, dass weder griechische noch römische noch ägyptische oder irgendwelche Götter eine Bedeutung für oder Macht über Israel haben. Nur der Gott Israels ist auch sein Herr. Oder aber der Vers gibt eine Kurzfassung von Ex 20,2–5: «Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!» Israel soll sich also keinen anderen, schon gar nicht selbst erschaffenen Göttern zuwenden. Keine dieser Versionen legt fest, dass nur der eine Gott existiert, dass es nur diesen einen Gott gibt. Hingegen ist offensichtlich nur er allein von Belang für Israel, nur ihn soll es beachten, und nur er allein ist Herr, oder er ist der einzige Herr, und vor allem, er ist «dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat». W as also auch immer durch das griechische heis (einer) vermittelt wird, dass Gott trotz verschiedenster Erscheinungsformen nur einer ist, oder dass es nur einen Gott gibt, oder dass nur Gott allein Herr ist, eines steht ganz eindeutig in der Schrift: «Höre, Israel!» Der Gott Israels ist ein Gott, der Aufmerksamkeit fordert, der sich seinem Volk zuwendet, es aus der Knechtschaft befreit und seinerseits Zuwendung von seinem Volk will: «Du sollst lieben den Herrn, deinen Gott, aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deiner ganzen Einsicht und aus deiner ganzen Kraft.» Es ist das erste und grösste Gebot, dass Israel hört, dass es seine Aufmerksamkeit und all sein mentales Vermögen, seine Liebes-, Denk- und Vertrauensfähigkeit, auf Gott richtet. Der Thesaurus bietet als Varianten zu Aufmerksamkeit unter anderem: Dienstwilligkeit, Artigkeit, Eilfertigkeit, Beflissenheit und Ähnliches mehr. Doch Jesus macht deutlich, dass es darum ganz offensichtlich nicht geht, indem er unmittelbar die Aufforderung aus Lev 19,18 anfügt: «Du sollst lieben deinen Nächsten wie dich» und betont, dass es kein grösseres Gebot gibt als diese beiden. Gott mit aller Macht zu lieben bedeutet, den Nächsten zu lieben, Gottes Werk der Befreiung und Rettung tatkräftig fortzusetzen.

Mit Markus im Gespräch

Der Schriftkundige bestätigt Jesu Antwort als schön (kalos) / richtig und wahr und verdeutlicht die Bedeutung der genannten Gebote, indem er ergänzt: «… und ihn … zu lieben und seinen Nächsten wie sich selbst ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer. » Wie zuvor der Schriftkundige gesehen hat, dass Jesus den Sadduzäern kalos – schön, recht geantwortet hatte, sieht Jesus nun seinerseits, dass der Schriftkundige nunechos – verständig, einsichtig spricht. Beide nehmen sich gegenseitig mit dem gleichen Sinn wahr, sehen den anderen, doch Jesus erkennt den Schriftkundigen gründlicher, tiefer gehend. Er sieht nicht nur die Richtigkeit der Antwort, sondern erkennt den Menschen dahinter, nimmt wahr, dass dieser Mensch seine Worte auf Erkenntnis gründet, sie reiflich durchdacht hat und nicht einfach nachbetet. Dennoch spricht er ihm nicht uneingeschränkt das Reich Gottes zu, wie er es gemäss Mt 5,3 den Armen zugesagt hat. Er lässt ihn lediglich wissen, dass er «nicht weit weg vom Himmelreich » sei. Was fehlt ihm denn noch? Bei einem genauen Vergleich der Antworten zeigt sich eine unscheinbare, doch offenbar schwerwiegende Differenz. In der Rede des Schriftkundigen verwendet der Evangelist das Verb «lieben» sowohl in Bezug auf Gott als auch hinsichtlich des Nächsten substantiviert. So ist nach seiner Aussage «das Lieben» Gottes und des Nächsten mehr als Brand- und andere Opfer. Doch damit werden die grundlegenden Gebote in die Abstraktion abgedrängt, verlieren ihren Beziehungscharakter und so ihre lebensbestimmende und lebenserhaltende Kraft. Gottes rettendes und befreiendes Eingreifen wird nicht durch «das ihn Lieben» wirkungsvoll weitergeführt, sondern nur, wenn Israel, das Volk Gottes, die glaubenden Menschen Gott und ihre Nächsten lieben. Nicht die Gottesund Nächstenliebe allgemein, sondern das «höre», das «du sollst», das «wende dich mir und (damit) deinem Nächsten aufmerksam und liebevoll zu» sind die grössten Gebote, und nicht der eine/einzige Gott, sondern der Herr, der «dein Gott» i st u nd d er «dich aus Ägypten geführt hat» ist von zentraler Bedeutung. Nur der erlebte, erfahrene Gott, der Gott, der einem nahe ist, sich in die Geschichte einbringt, kann wirklich geliebt und nicht nur ehrfürchtig verehrt werden. Wobei im jüdischen Kontext zu beachten ist, dass die Geschichte des Volkes dem je Einzelnen wie seine persönliche Geschichte gilt. Nicht nur, wer höchstpersönlich eine Gottesbegegnung hatte, kann Gott mit all seinem Sein lieben, sondern auch, wer glaubt, dass Gott durch seine direkte Beziehung mit Moses die Befreiung aus der Knechtschaft bewirkt hat. Das Reich Gottes soll wiederum nicht durch distanziert mitleidige Almosen, wie grosszügig sie auch sein mögen, und eine fromme und philanthrope Grundhaltung lediglich veranschaulicht werden. Es bedarf der Zuwendung, der Parteinahme und des unterstützenden Einsatzes für die/den konkreten Nächsten und der Wahrnehmung, dass auch Gott sich konkret handelnd den Menschen zuwendet, um das Reich Gottes zu verwirklichen, Wirklichkeit werden zu lassen. Denn der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, der Gott Jesu und der Gott des Evangelisten, unser Gott ist nicht ein Gott der Toten (und der abstrakten Regeln) sondern ein Gott der Lebenden (und des wirkmächtigen Handelns). Das beinhaltet das erste Gebot.