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Allerheiligen – Im Atem halten   

Hanspeter Ernst zum Evangelium an Allerheiligen (01.11.): Mt 5,1–12a

 

Kein Fest Allerheiligen ohne die Seligpreisungen. Aber wer kennt die Seligpreisungen (noch)? Darüber lässt sich jammern – ach, wie sich die Zeiten geändert haben –, oder aber man nimmt diese Situation zum Anlass, sie zu vermitteln, sie zu lehren. Wer lehrt, weiss, wie wichtig für die Lernenden die Wiederholung ist. Sie/er weiss ferner, dass die Situation, in der die Schülerinnen und Schüler leben, und das Milieu, aus dem sie kommen, bei der Vermittlung des Stoffes eine Rolle spielen. Dieses Wissen ist vor allem dann entscheidend, wenn das Lernen etwas mit dem Leben zu tun haben und wenn das, was vermittelt wird, dem Leben eine Richtung geben soll.

Was in den Schriften geschrieben steht

Matthäus leitet die Bergpredigt mit dem Satz ein: «Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf und lehrte sie» (Mt 5,1). Jesus wird hier geschildert als Rabbi, als Lehrer, sitzend, seine Schüler aber stehend. Stehende Schüler schlafen weniger. Der Ort ist der Berg. Nicht irgendein Berg, wie dies in einigen Übersetzungen steht, sondern der Berg (im Griechischen mit bestimmtem Artikel). Zwar spielt der Berg bei Matthäus als Ort des Gebets, der Offenbarung oder der Heilung eine Rolle, aber in diesem Zusammenhang dürfte viel mehr an den Berg Sinai gedacht werden. Jesus steigt wie Moses auf den Berg (z. B. Ex 19,3.12; 24,15.18). Dass er seine Jünger das lehrt, was er von Gott empfangen hat, ist ebenfalls gute jüdische Tradition. Was diese aus seinem Munde hören, ist für die Menschen bestimmt, nicht einfach für den Kreis der Gelehrten. Bei Matthäus kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass vom Vers 1 her nicht ganz klar ist, ob Jesus nur zu den Jüngern, nicht aber zur Volksmenge redet. Der Schluss der Bergpredigt 7,28 f. jedoch lässt keinen Zweifel daran, die Menschen waren überwältigt von seiner Lehre. Dieser Bezug zu Mose sollte nicht in dem Sinne gedeutet werden, dass Jesus mehr als Mose ist. Solche Bezüge sind viel mehr Augen- und Ohrenöffner: Passt auf, das Geschehen am Sinai wiederholt sich. Aber der Sinai allein ist nichts, wenn da nicht die Geschichte der Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens durch Gott vorausginge, die mit der Offenbarung Gottes am Dornbusch beginnt: «Ich bin der Gott deines Vaters (…). Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihr Schreien über ihre Antreiber habe ich gehört, ich kenne seine Schmerzen. So bin ich herabgestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu erretten und aus jenem Land hinauszuführen in ein schönes Land, in ein Land» (Ex 3,6 ff.). Der Sinai ist der Ort, wo dieser Gott seine Freiheitsordnung kundtut, es ist der Ort, an dem sich das Volk Israel konstituiert, und der Ort des Bundes, den Gott mit Israel und Israel mit Gott schliessen. Matthäus bringt diese ganze Geschichte in literarisch verdichteter Form. In dieser Perspektive erhalten die Seligpreisungen eine Richtung. «Glücklich, selig»: Wer diese Anrede hört, wird unweigerlich an den Ps 1 erinnert «Glücklich, selig, wohl der Mann, …», und wird erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass Jesus nicht wie in Ps 1 weiterfährt. Womit ihm der Einstieg geglückt ist. Was folgt, ist überraschend. Bevor ich das Überraschende ausführe, möchte ich doch erst auf die Schönheit des Textes hinweisen, den Matthäus komponiert hat. Gerahmt werden die Seligpreisungen, die in der 3. Pers. Pl. gehalten sind (V. 3–10), mit der Zusage: «… denn ihnen gehört das Himmelreich» (V. 3.10), V. 11 und 12 wenden sich in direkter Anrede an die Anwesenden. Auffällig ist ferner die Wiederholung des Wortes «Gerechtigkeit» (V. 6.10), ein Wort, das innerhalb des Matthäusevangeliums grosse Bedeutung hat. Diese grosse Bedeutung wird sprachlich unterstrichen, weil die Verse alle die gleiche Struktur (Protasis und Apodosis) haben, was dem Text als Ganzem einen rhythmischen Charakter verleiht, die Gerechtigkeit indes überlappt sprachlich. Was in der Übersetzung leider nicht wiedergegeben werden kann, die Armen (V. 3), Trauernden (V. 4), Freundlichen (V. 5) und Hungernden (V. 6) beginnen im Griechischen alle mit dem Buchstaben pi. (Was tut man doch nicht alles, damit ein Text leicht auswendig gelernt werden kann.) Zudem unterscheiden sich diese ersten vier von den anderen Seligpreisungen, die einem weisheitlichen Tat-Ergehen-Zusammenhang folgen, durch ihren paradoxen Charakter.1 Hungernde sind solche, die nicht gesättigt werden, ihrer Erfahrung entspricht also genau das Gegenteil vom Gesagten. Damit wären wir beim Überraschenden. Selig gepriesen werden als erstes die Armen. Mit den Armen sind jene gemeint, die nichts haben. Es geht um materielle Armut. «Wer arm ist, der hat auch Hunger und ist traurig.»2 Es g eht d aher bei den ersten Seligpreisungen nicht um drei verschiedene Gruppen. Es ist eine Gruppe, die der Armen. Bei Lukas spricht Jesus die Armen direkt an (2. Pers. Pl., Lk 6,20 f.). Bei Matthäus dagegen werden die Armen zu «Armen im Geist». Schwächt Matthäus die Aussage Jesu ab? Denn dass Jesus sich den Armen zugewandt hat, entspricht einer Gesamtaussage aller Evangelien. Umso drängender und irritierender wird die Frage. Gehört Matthäus zu jener Gruppe von Tradenten, die die Botschaft Jesu im Hinblick auf die Zuhörerinnen und Zuhörer so frisieren, dass niemand durch sie vor den Kopf gestossen wird? Darauf lässt sich mit aller Entschiedenheit nur mit Nein antworten. Die «Armen im Geist» heben die «Armen» nicht auf, vielmehr geben die «Armen» den «Armen im Geist» die Richtung. Es ist eine Haltung den Armen gegenüber. Und warum? Weil Gott sich auf die Seite der Armen stellt – ihnen gehört das Himmelreich. Hier zeigt sich, dass es um keinen anderen Gott geht als den, der «das Leiden seines Volkes sieht und seinen Schmerz kennt». Das ist kein Wischiwaschi-Gott, mit dem sich alles und jedes rechtfertigen lässt. Jesus handelt in der Treue diesem Gott gegenüber. Und Matthäus handelt in der Treue diesem Gott und Jesus gegenüber, indem er diese Botschaft seiner Gemeinde ins Fleisch schreibt. Aber das Leben seiner Gemeinde verlangt von ihm den Zusatz «im Geiste», weil er darin das sieht, was den Worten Jesu entspricht. Matthäus weiss, dass wörtliches Festhalten an bestimmten Aussagen Jesu unter anderen Lebensumständen Verrat an dem sein könnte, was Jesus wollte. Ihr kommt nicht an den Armen vorbei, weil Gott sich auf ihre Seite gestellt hat. Bei der Armut im Geiste geht es nicht um eine vergeistige Auflösung der Armut, sondern um die Solidarität mit den Armen. Und weshalb? Ihnen gehört das Reich der Himmel. Unter Absehung von den konkret Armen haben die Seligpreisungen keine Geltung. Armut stört. Folglich wird sie lieber übersehen als gesehen. Deshalb hält die Bergpredigt im Atem.

Mit Matthäus im Gespräch

Matthäus konnte nicht wissen, dass «seine Seligpreisungen » am Fest Allerheiligen gelesen werden. Aber ich denke, dass er sich freuen würde. Es geht um das Herz der frohen Botschaft, das mitten in unserem Leben pulsieren und uns beleben soll. Heilige sind solche Menschen, die das durch ihr Leben bewiesen haben, mindestens ist dies der Anspruch der Kirche, die sie heiligspricht. Als solche sind sie auch Spiegel einer kirchlichen Wirklichkeit. Und da könnte ich mir vorstellen, dass uns Matthäus bei einigen Heiligen mit einer Sorgenfalte fragen würde: Habt ihr wirklich mein Evangelium gelesen? Wo ist eure Parteilichkeit? Habt ihr die Armen vergessen, ohne die das Bekenntnis zum Gott und Vater Jesu Christi beliebig wird?