Wir beraten

«Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich!»   

Franz Annen zum Evangelium am 30. Sonntag im Jahreskreis (28.10.): Mk 10,46–52 SKZ 40-41/2012

 

Die Heilung des blinden Bartimäus steht bei Markus an einer Schlüsselstelle des Evangeliums: am Ende des Weges Jesu nach Jerusalem unmittelbar vor der Schilderung des messianischen Einzugs in die heilige Stadt, wo ihn das Kreuz, aber auch die Auferstehung erwarten.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Blindheit galt in der Antike als besonders schwere und unheilbare Behinderung.1 Sie macht die Menschen hilflos und unfähig, ihr Leben selbständig zu gestalten (vgl. eindrücklich Dtn 28,28 ff.). Auch die sozialen Folgen für Blinde waren gravierend. Meist blieb ihnen nichts anderes übrig als zu betteln, um zu überleben. Zusammen mit den Lahmen und Tauben standen sie daher unter dem besonderen Schutz Gott und der Tora (Lev 19,14; Dtn 27,18). Die Heilung der Blinden gehörte zu den Verheissungen der messianischen Zeit (Jes 29,18; 35,5). Während es sonst Gott selbst ist, der den Blinden die Augen öffnet (vgl. Ps 146,8), gibt er in Jes 42,6–7 seinem erwählten Knecht den Auftrag «Licht für die Völker zu sein» und «blinde Augen zu öffnen». Mit der Heilung des Bartimäus (und den andern Blindenheilungen Jesu) erfüllt sich diese endzeitliche Hoffnung. Dass den Blinden das Augenlicht geschenkt wird, gehört auch für Jesus selbst zu den Zeichen dafür, dass mit ihm die erwartete Zeit des Heils da ist (vgl. Mt 11,2–6 aus der Logienquelle und die programmatischen Jesusworte in Lk 4,18–21). D ass die Erzählung von der Heilung des blinden Bartimäus in diesem Erwartungshorizont zu verstehen ist, zeigt die zweimalige, betonte Titulierung Jesu als «Sohn Davids» durch den bittenden Blinden. «Sohn Davids» ist eine gebräuchliche Bezeichnung des Messias, der ein Nachkomme Davids sein wird. So verstand die jüdische Tradition die Verheissung in 2 Sam 7,12–16. Zur Zeit Jesu waren die messianischen Hoffnungen in sehr unterschiedlichen Ausprägungen (politische Befreiung und Sammlung Israels, religiöse Erneuerung, Heil für das ganze Volk) sehr lebendig. Mit dem Messias wird die erwartete Heilszeit da sein, in der Krankheiten und Behinderungen geheilt werden. Vom Messias selbst allerdings erwartete man keine Krankenheilungen. Mit seinem zweimaligen Ruf «Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!» nimmt der blinde Bettler den Glauben vorweg, der sich nachher beim Einzug in Jerusalem in der Akklamation der Volksmenge feierlich äussert (Mk 11,10): «Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David, das nun kommt. Hosanna in der Höhe!»

Mit Markus im Gespräch

Markus platziert die Erzählung von Bartimäus als Abschluss des ganzen Abschnittes, der mit dem Petrus-Bekenntnis und der ersten Leidens-Vorhersage in Mk 8,27–33 beginnt. Dieser Teil des Evangeliums steht ganz unter dem Thema des «Weges», den Jesus von Galiläa bzw. von Cäsarea Philippi (8,27 «auf dem Weg») nach Jerusalem, der Stadt des Kreuzes und der Auferstehung, geht. Immer wieder wird betont, dass Jesus auf dem Weg nach Judäa bzw. Jerusalem sei (8,27; 10,17.32; 11,2), wo er schliesslich (11,11) feierlich einzieht. Neben dem Thema des Weges Jesu ans Kreuz (vgl. besonders 8,31–33; 9,30–32; 10,32–24) geht es in diesem Abschnitt ebenso deutlich um den Weg der Jünger und um Jesu Verständnis der Jüngerschaft, die darin besteht, mit ihm den Kreuzweg zu gehen und sein eigenes Kreuz in seiner Nachfolge zu tragen (9,34): «Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.» Doch die Zwölf und die andern Jünger, die mit ihm gehen, verstehen diese Form der Nachfolge nicht und wehren sich dagegen (Petrus 8,32–33; die Zwölf 9,32.33–37; die Söhne des Zebedäus 10,35–45). Im entscheidenden Augenblick – bei Jesu Gefangennahme – werden sie alle fliehen (14,50). Anders der blinde Bettler, der zum Schluss in Jericho «am Weg» Jesu sitzt. In seiner hoffnungslosen Situation setzt er alles Vertrauen auf Jesus von Nazaret, von dem er offenbar gehört hat und den er für den Messias, den «Sohn Davids», hält. Sein fester Glaube lässt sich auch vom Unwillen der Leute, die Jesus begleiten, nicht abweisen. Dieser Glaube machte ihn gemäss dem Wort Jesu (10,52) heil: «Geh! Dein Glaube hat dich geheilt!»2 Er kann wieder sehen, offenbar nicht nur körperlich, sondern in einem noch tieferen Sinn. Unter dem Eindruck seiner wunderbaren Heilung, begreift er, um was es wirklich geht: « ... und er folgte Jesus auf seinem Weg» (10,52). Er hat nicht nur das Augenlicht wieder erlangt, sondern ist nach dem Wort Jesu durch seinen Glauben im umfassenden Sinn «geheilt» worden. Er wird zum Jünger Jesu und folgt3 ihm auf seinem Weg nach Jerusalem, wo das Kreuz wartet. D ie Geschichte von Bartimäus ist also nicht nur die Geschichte einer Wunderheilung, sondern auch eine Glaubensgeschichte, die in die Nachfolge mündet. Sie ist so der geeignete Schluss des Abschnittes über die Jünger-Belehrung Jesu auf dem Weg nach Jerusalem (Mk 8,27–10,52) und leitet über zur Eröffnung der Passionsgeschichte im Einzug in die heilige Stadt (Mk 11,1–11). Wo trifft die Geschichte uns selbst? Jeder Mensch, auch jeder glaubende Mensch, erlebt Phasen des Lebens, die ihn zum Bartimäus machen, Zeiten, in denen er blind am Lebensweg sitzt und nicht versteht oder nicht akzeptieren kann, was mit ihm geschieht, bedürftig der Hilfe von Menschen, die «vorüber ziehen». Dann hilft nur eins: Nicht still und traurig sitzen zu bleiben, sondern wie Bartimäus laut um Hilfe zu rufen und nicht zu schweigen, auch wenn es manchen lästig sein mag. Wenn man Glück hat, gibt es unter den Vorüberziehenden Menschen, die stehen bleiben und fragen: «Was soll ich dir tun?» Es gibt auch heute viele Menschen, die ein offenes Herz und zupackende Hände haben, wenn ihnen Not begegnet. Und wenn alle Menschen vorüber gehen oder gar unwillig werden, gibt es für den Glaubenden immer noch Jesus, den Mann aus Nazaret, der stehen bleibt und fragt: «Was soll ich dir tun?» Die Geschichte von Bartimäus ist so auch eine Geschichte, die von der Kraft des Gebetes, des inständigen und beharrlichen Gebetes, spricht. Frühere Generationen hatten es wohl leichter, an diese Kraft zu glauben und darin Halt zu finden. Bartimäus ist eine Ermutigung dazu, diesen Halt neu zu suchen. Aber die Geschichte geht noch tiefer. Der blinde Bettler findet durch seinen Glauben nicht nur Heilung von seiner Blindheit. Die erfahrene Heilung führt ihn auf den Weg der Nachfolge. Er ist bereit, mit Jesus den Weg zu gehen, den Weg nach Jerusalem. Das Markusevangelium macht deutlich genug, dass dieser Weg nach Jerusalem ein Kreuzweg ist – für Jesus selbst und für seine Jünger und Jüngerinnen, die ihm nachfolgen. Er ist aber auch der Weg zum Leben, zur Auferstehung.

1 Vgl. dazu Renate Fink: Die Botschaft des heilenden Handelns Jesu. Untersuchung der dreizehn exemplarischen Berichte von Jesu heilendem Handeln im Markusevangelium. Innsbruck 2000, 166–167, hier 193.

2 Die Einheitsübersetzung sagt 10,52: «Dein Glaube hat dir geholfen» und bagatellisiert damit das griechische Wort sozein, das «heilen» bedeutet, oft in einem umfassenden Sinn.

3 Für «folgen» wird griechisch akolouthein gebraucht, das auch die Nachfolge der Jünger bezeichnet.