Wir beraten

Von himmlischen und irdischen Rankings   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 29. Sonntag im Jahreskreis (21.10.): Markus 10,35–45, SKZ 39/2012

 

Im Jüngerkreis spielen sich Szenen ab, die durchaus an heutige Szenen aus der Politik, aber auch aus dem Alltag am Arbeitsplatz oder im Freundes- und Familienkreis erinnern: Es geht um Positionierungen innerhalb einer Gruppe, um hierarchische Ordnungen, um Machtverteilung und um Einflussnahme. Zwei der Jünger, Johannes und Jakobus, wollen sich die besten Plätze neben Jesus sichern, und zwar nicht in dieser, sondern in der kommenden Welt: Johannes und Jakobus versuchen eine Art «Versicherung» für das Leben im Reich Gottes abzuschliessen.

«. . . was in den Schriften geschrieben steht»

Innerhalb des Markusevangeliums steht unsere Passage im Kontext des Aufstieges nach Jerusalem, das Jesus einerseits herzlich empfangen (Mk 11), andrerseits aber auch der Schauplatz der Kreuzigung sein wird (Mk 14–15). Unmittelbar vor unserem Text findet sich die dritte Ankündigung vom bevorstehenden Tod Jesu (Mk 10,32–34, siehe auch Mk 8,31 und Mk 9,31). Die Jünger haben ganz offensichtlich – und verständlicherweise – Angst vor dem, was auf sie zukommt, und versuchen, sich für die Zukunft abzusichern. Je näher sie Jerusalem kommen, desto grösser wird diese Angst. D er Versuch von Johannes und Jakobus, sich einen Ehrenplatz im Jenseits zu sichern, erscheint zunächst anmassend. Doch bei näherem Hinsehen erweist er sich als nicht ganz so unberechtigt: Jesus hat den Jüngern gerade erst hundertfachen Lohn und ewiges Leben versprochen (Mk 10,29 f.). Ausserdem gehören die beiden Jünger zu den vier Erstberufenen und gelten als Jesus besonders nahestehend (Mk 1,19; 3,17; 5,37). Die Frage Jesu, ob sie so wie er den Kelch des Todes trinken können, bejahen sie zu Recht (Mk 10,38 f.): Jakobus stirbt tatsächlich als Märtyrer (Apg 12,2). Dennoch führt der Wunsch der beiden erwartungsgemäss zu Spannungen innerhalb der Jüngergemeinde. Mk 10,35–35 ist nicht das einzige oder erste Mal, wo über solche Rangstreitigkeiten unter den Jüngern berichtet wird. Auch im Anschluss an die zweite Ankündigung von Jesu Tod «verhandeln [die Jünger], wer der Grösste sei» (Mk 9,34). Während es in Kap 9 um Positionierungen im Hier und Jetzt geht, thematisiert Kap. 10 die Hierarchie in der kommenden Welt. Mit zunehmender Nähe zu Jerusalem verschiebt sich demnach der Schwerpunkt der Diskussion im Kreise der Jünger. D ie Frage nach Hierarchien und Rangfolgen ist nicht nur bei Markus, sondern auch bei Lukas ein Thema, etwa im Gleichnis von der Rangordnung der Gäste (Lukas 14,7–14). Die Existenz von hierarchischen Ordnungen wird wie bei Markus nicht verneint, doch ihre Bedeutung wird relativiert. A uch die hebräische Bibel nähert sich dem Thema Rangfolge immer wieder, ja, das Umkehren einer als fix vorausgesetzten Reihenfolge kann als Topos der Väter- und Müttererzählungen in der Genesis gewertet werden: So wird der jüngere Sohn dem älteren in der Nachfolge immer wieder vorgezogen. Dies ist beispielsweise der Fall bei Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Josef und seinen Brüdern. Das Aufbrechen von festgefügten Rankings gehört für die Erzähler der Genesis zu Gottes Plan. D ieses Umkehren der erwarteten Reihenfolge erscheint auch in späteren biblischen Büchern, so im Bericht über die Salbung Davids durch Samuel. Ausgerechnet der Jüngste, der mit den Tieren auf dem Felde ist, wird zum König gesalbt, denn für Gott gelten andere Kriterien als für die Menschen: «Denn nicht sieht der Herr auf das, worauf ein Mensch sieht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an» (1 Sam 16,7). Fest gefügte Rangfolgen werden vor Gott immer wieder gekippt! Auch Jesus «kippt» solche Machthierarchien: Seine Gemeinde soll ein Gegenmodell zur Gesellschaft sein, in der die Grössten und Ersten auch die Mächtigsten sind. In der Jesus-Gemeinde soll diese Reihenfolge umgekehrt werden, indem die Grössten dienen (Mk 10,43–44) bzw. sich um die Schwächsten in der Gesellschaft kümmern (Mk 9,36–37). Die Gemeinde Jesu soll nicht «von oben herab » aufgebaut sein, sondern von unten her. Ein «Amt» innehaben bedeutet nicht Macht und Privilegien, sondern den anderen Diener (diakonos), ja sogar Sklave (doulos) sein. Im babylonischen Talmud findet sich eine Erzählung, in der genau diese zwei «Amtsverständnisse»: Amt als Privileg bzw. Amt als Dienst aufeinanderprallen: Rabbi Eliezer, Rabbi Joschua und Rabbi Zadoq sind zur Hochzeitsfeier des Sohnes von Rabban Gamliel, des «Nasi» (Fürsten), des höchsten Würdenträgers des damaligen rabbinischen Judentums eingeladen. Während Rabbi Eliezer sich von Rabban Gamliel aus Ehrfurcht vor dessen Stellung nicht einschenken lässt, lässt sich Rabbi Joschua von ihm bedienen. Darauf entsteht eine Diskussion, wer von den beiden richtig gehandelt habe. Rabbi Joschua verteidigt seine Position folgendermassen: «Wir finden einen, der grösser war als er (= Rabban Gamliel) und andere bediente: Abraham war grösser als er und er bediente andere. Abraham war der Grösste seines Zeitalters und von ihm heisst es: «Er stand vor ihm» (Gen 18,8). Vielleicht glaubst du, sie (= die drei Männer) erschienen ihm als Dienstengel, so ist dem nicht so, sie erschienen ihm als Araber.» Rabbi Zadoq fügt dieser Diskussion eine weitere Dimension hinzu: «Wie lange wollt ihr die Ehre Gottes lassen und euch mit der Ehre des Menschen befassen? Der Heilige, gelobt sei Er, lässt Winde wehen, Wolken aufsteigen, die Erde sprossen und deckt jedem einzelnen den Tisch. Weshalb soll nun Gamliel nicht vor uns stehen und uns einschenken?» (Babylonischer Talmud, Traktat Qidduschin 32b). Der Talmud geht hier noch einen Schritt weiter als Markus: Nicht nur Abraham, sondern Gott selber «bedient» durch seine Schöpfung den Menschen. «Dienen» wird dadurch zu einer göttlichen Tätigkeit, die der im Bilde Gottes geschaffene Mensch nachzuahmen hat.

Im Gespräch mit Markus

Das zehnte Kapitel des Markusevangeliums beleuchtet die Frage nach dem Weg ins Reich Gottes aus unterschiedlicher Perspektive: Es geht um das Einhalten der Gebote sowie um die richtige Interpretation derselben im Sinne der Nachfolge Jesu. Je näher Jesus und seine Jünger Jerusalem kommen, desto mehr verlagert sich der Inhalt der Gespräche auf das Reich Gottes, auf die kommende Welt. M arkus verneint die Existenz von Hierarchien nicht unbedingt: Mk 10,40 scheint diese vorauszusetzen. Darum geht es aber gar nicht. Wichtig ist vielmehr, dass das Streben um einen guten Platz keine Rolle im Hier und Jetzt spielen darf: Wer sich ehrlich und ohne Hintergedanken auf einen wie auch immer gearteten Lohn für die Schwachen einsetzt, sich an die Gebote hält, wird gerettet werden. Das muss genügen! Jesus bestätigt den beiden Jüngern nur, dass sie mit ihm zusammen leiden werden, mehr nicht. Nicht einmal der Sohn kennt die Rangfolge im Reich Gottes. Die Hoffnung auf einen Top-Platz – sei es in dieser Welt oder in der kommenden – darf das Handeln nicht bestimmen, oder wie es bei Lukas heisst: «Wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein, dann wirst du selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten» (Lk 14,13 f.). Das bedeutet es, in der Nachfolge Jesu zu leben bzw. die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu realisieren!