Wir beraten

«Wenn nur Gott seinen Geist auf alle legte!»   

Peter Zürn zum Evangelium am 26. Sonntag im Jahreskreis (30.9.): Mk 9,38–43.45.47–48, SKZ 37/2012

 

«Wer nicht gegen uns ist, ist für uns!» – «Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, hau sie ab!» Viel Spannung in einem Text.

Was in den Schriften geschrieben steht

Die Leseordnung bringt Mk 9 mit Num 11 ins Gespräch, Jesus mit Moses. In Num 11 geht es um den Umgang mit der prophetischen Geistkraft Gottes innerhalb des Volkes. Die Erfahrung ist offenbar, dass die weht, wo sie will. Die Frage ist aber, ob es nicht dennoch gut ist, wenn trotzdem ausgewählt wird, wer dafür geeignet erscheint. Mose wählt 70 Älteste des Volkes aus. Er erstellt richtiggehend eine Liste (11,26). Ihnen wird die Geistkraft Gottes, die vorher auf Mose lag, zuteil, und diese wirkt sofort und anhaltend. «Sie gerieten in prophetische Verzückung, die kein Ende nahm» (11,25). Die Aufteilung der Geistkraft ist nicht zeitlich befristet. Und sie hält sich auch nicht an andere Grenzen. Das spielt der Text exemplarisch durch. Er erzählt (11,26–29), dass zwei der 70 im Lager zurückgeblieben waren. Auch sie werden vom Geist erfüllt. Josua, der spätere Nachfolger des Mose, sieht dadurch die Ordnung gefährdet und interveniert: «Mose, hindere sie daran!» Mose weist dieses Ansinnen zurück. Er will das Wirken der Geistkraft nicht eingrenzen, im Gegenteil, er stellt dem seine grosse Vision entgegen: «Wenn doch nur das ganze Volk Gottes zu Propheten würde, wenn nur Gott seinen Geist auf sie alle legte!» Die Auswahl, das Anlegen von Listen, ist vorläufig, soll überwunden werden im Namen Gottes. Das muss Josua und das müssen mit ihm alle Nachfolgerinnen und Nachfolger des Mose hier lernen. Das wird auch durch die Zahl der Ältesten unterstützt. 7 und 70 sind in der Bibel Zahlen der Fülle. 70 meint alle. 70 ist das Gegenteil von exklusiv.

Andere biblische Schriften greifen die Vision des Mose auf. Joel 3 beschreibt die bevorstehende neue Zeit Gottes mit den bekannten Worten: «Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein.» Söhne und Töchter, Alte und Junge, auch Knechte und Mägde werden vom Geist erfüllt. Und Apg  2 setzt das in der Pfingsterzählung als erfahrbare Wirklichkeit. Die Exklusivität der Geistbegabtheit ist definitiv beendet. Redet Numeri 11 nicht trotzdem einer Eingrenzung, nämlich der auf Männer das Wort? Umso mehr als das hebräische Wort zekenim ursprünglich «Bärtige» bedeutet? (Wären nichtbärtige Männer dann mit gemeint?) zekenim findet sich allerdings auch in Gen 18,11. Abraham und Sara sind zekenim. «Und wenn die alte Sara mit einem Wort bezeichnet werden kann, welches grammatikalisch männlich ist und zudem noch auf den Bart der Alten zurückgeht, warum sollten dann nicht auch unter den Ältesten von 4 Mose 11 Frauen sein?», fragt Jürgen Ebach zu Recht.1

Mit Markus im Gespräch

Der markinische Jesus steht in der Tradition des Moses, wenn er, allerdings weniger visionär, formuliert: «Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns» (Mk 9,40). Johannes und andere Jüngerinnen und Jünger stehen in der Tradition des Josua und sehen dadurch die rechte Ordnung bedroht, dass jemand Gottes Kraft sichtbar macht – denn das heisst ja Wunder tun –, ohne auf einer Liste der Nachfolgegemeinschaft Jesu zu stehen. Sie sollen hier etwas lernen wie die Josuas in Num 11. Mk 9 lenkt die Aufmerksamkeit auf das Verbindende oder doch mindestens auf das, was nicht trennt: «Keiner, der in meinem Namen Wunder tut, kann so leicht schlecht von mir reden.» Das Markusevangelium möchte die Kräfte stärken, die nach der Katastrophe des Krieges gegen die Römer und des innerjüdischen Bürgerkriegs, Dämonen austreiben und daran festhalten, dass Gott trotz allem immer noch heilsam im Volk Israel wirkt. Wer sich auf den Namen «Jesus» beruft, der «Gott rettet» bedeutet, der hält fest an der Rettung Israels. Und wer im Namen «Jesus» wirkt, der ja die latinisierte Form des hebräischen Josua ist, der steht in der Tradition des Josua, des Nachfolgers des Mose, der in Num 11 zu lernen begonnen hat, sich nicht für die Eingrenzung des Wirkens Gottes zu ereifern. Mk 9,41 macht aufmerksam für die, die denen einen Becher Wasser reichen, die sich zu Christus, zu Jesus als dem Messias bekennen. Markus möchte all die jüdischen Kräfte unterstützen, die nach der Katastrophe dieses Krieges nicht versuchen, andere Gruppen, insbesondere messianische Bewegungen, zu dämonisieren und auszugrenzen. Wer das tut, dem spricht er den Segen Jesu zu: «Er wird nicht um seinen Lohn kommen.»

Der zweite Teil des Evangeliums scheint konträr zur Botschaft des ersten Teiles zu stehen: vom Abhauen der Hand und des Fusses ist die Rede und vom Ausreissen des Auges, wenn sie zum Bösen verführen. Schlägt hier die Weite des ersten Teiles in rigide Selbstzucht und Gewalt gegen sich selbst um? Vielleicht kann auch hier Num 11, diesmal im Gespräch mit dem Apostel Paulus, einen Weg weisen. Num 11 spielt ja innerhalb des Volkes Israel. Sein Bezugspunkt ist nicht ein einzelner Mensch, sondern eine soziale Gemeinschaft, das Volk Gottes. Die grosse Vision des Paulus sieht diese Gemeinschaft durch das Wirken des Messias als eine Ekklesia von Juden und Heiden oder weniger formelhaft, dafür aber geschlechtergerechter ausgedrückt, von jüdischen Menschen und Menschen aus den Völkern. Ihr Zusammenleben bezeichnet er als Leib des Mes-sias, als Leib Christi (v. a. 1 Kor 12 besonders V. 27). Dieser soziale Leib, der auch andere Grenzen überwindet und ein Leib von Sklaven und Freien, Frauen und Männern ist, ist geprägt von Einheit in Verschiedenheit. Bildlich gesprochen gibt es Hände und Füsse und Ohren und Augen (12,16–17). Spricht Jesus in Mk 9, 43–47 auch in diesem sozialen Sinn von Händen und Füssen und Augen? Richtet sich der Blick nicht auf einzelne Menschen, sondern auf das Zusammenleben in der Nachfolgegemeinschaft? Hat dann die Weite dort ihre Grenze, wo diese Gemeinschaft durch das Wirken einer Gruppe bedroht ist? Versucht Mk 9 das grosse Projekt der Ekklesia von Juden und Heiden auch nach der Katastrophe des Krieges gegen Rom zu retten? Tritt Jesus hier deswegen so radikal und kompromisslos auf, weil das Wesentliche in Frage steht? Wenn Hand, Fuss, Auge der Ekklesia sich gegen andere jüdische Gruppen wenden, wenn sie sich für die Trennung von Israel starkmachen, dann ist das Königtum Gottes in Gefahr. Dann ist es «besser, einäugig in das Reich Gottes zu kommen» (9,47). Zum Schluss wird Jes 66,24 zitiert. Der Vers steht im Kontext einer Verheissung für die Endzeit. Der Gott Israels wird die Völker aller Sprachen zusammenrufen, wird Menschen aus dem Volk Israel dorthin schicken, die Gottes grosse Taten verkünden, wird aus diesen Völkern Priester und Leviten – und ich ergänze im Sinne des Mose: Priesterinnen und Levitinnen – auswählen. Das ist die grosse Vision und Verheissung des Mose, des Jesaja, des Paulus und des Markus, die es in der Nachfolgemeinschaft Jesu zu bewahren gilt. Hier verläuft die Grenze zwischen Leben und Tod der Ekklesia.