Wir beraten

Eine heilige Ordnung   

Hans Rapp zum Evangelium am 25. Sonntag im Jahreskreis (23.9.): Mk 9,30–37, SKZ 36/2012

 

Hierarchie heisst wörtlich übersetzt «heilige Ordnung». Im Alltag verwenden wir es einfach für eine Rangordnung. Es gibt definierte und explizite, und es gibt unausgesprochene Hierarchien. Wo immer sich Gruppen zusammenfinden, entsteht eine Ordnung. Wichtig ist, dass diese Ordnungen den Zwecken der Gruppe funktional dienen. Das heutige Evangelium handelt von einer Diskussion um die Hierarchie der Jüngerinnen und Jünger Jesu. In den meisten Predigten, die ich gehört habe, wird diese Diskussion negativ bewertet. In der Kirche, so der Tenor, geht es doch nicht darum, möglichst weit oben zu stehen. Da geht es um Glauben, Gehorsam und Liebe. Kirche ist doch etwas ganz anderes. Ich glaube aber, dass diese Diskussion der Jünger nicht nur nicht schlecht war, sondern sehr wichtig. Hierarchien müssen diskutiert und geklärt werden. Denn Hierarchien bestehen immer. Anders können Gruppen gar nicht funktionieren. Auch nicht die Kirche. Werden sie nicht geklärt und diskutiert, wirken Hierarchien verdeckt, oder sie werden disfunktional. Das ist nicht besser, nur verlogener. Im heutigen Evangelium ermuntert Markus seine Leserinnen und Leser dazu, die Frage nach der Gestaltung dieser Ordnung zu stellen.

Im Gespräch mit Markus

Man kann das Evangelium geografisch in zwei Teile unterteilen. Mk 9,30–32 spielen auf dem Weg durch Galiläa, Mk 9,33–36 in Kapharnaum. Der Weg durch Galiläa ist nicht öffentlich. Niemand sollte «davon» wissen. Auf diesem Weg kündigt Jesus seinen Tod und seine Auferstehung an. Die Jünger verstehen nicht, was er ihnen sagen will, sie fürchten sich nachzufragen. Woher diese Furcht stammt, erzählt Markus nicht. D er zweite Teil bezieht sich auf den ersten. Während die Jünger sich im ersten Teil nicht zu fragen getrauten, was Jesus mit seiner Leidensankündigung meint, fragt Jesus sie, was sie unterwegs besprochen hätten. Markus schreibt, dass die Jünger geschwiegen hätten. Sie hatten nämlich unterwegs besprochen, wer von ihnen «grösser» sei. Es geht also im Gespräch unter den Jüngern um Hierarchie. Es ist kein Zufall, dass dieses Thema unter den Jüngern dann auftaucht, als Jesus über seine Auslieferung und seinen Tod spricht. Unter sich dachten sie offensichtlich in den Kategorien der Hierarchie weiter darüber nach. Sie tun das allerdings mit schlechtem Gewissen, denn anders lässt sich ihr Schweigen auf die Frage Jesu wohl nicht erklären (Mk 9,34). Hierarchie ist etwas, das die Jünger – und Jüngerinnen? – unter sich verhandeln, weil sie mit Jesu Missbilligung rechnen. Sie täuschen sich.

Jesus kritisiert sie nicht. Markus deutet auch mit keinem Wort an, dass Jesus sich geärgert hätte. Der Evangelist Lukas, der das Markusevangelium bearbeitete, hat das gut gespürt, wenn er Jesu Reaktion auf die verdeckte Diskussion der Jünger in folgende Worte fasst: «Jesus wusste, was in ihrem Herzen vorging» (Lk 9,47). Statt zu tadeln, tut Jesus etwas Bemerkenswertes. Markus formuliert das so: «Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.» In diesem Satz ist einiges auffallend. Jesus setzt sich. Sitzen ist eine Position, in der gelehrt wird. So berichtet Lukas, dass Jesus in einem Boot gesessen und das Volk belehrt habe (Lk 5,3). Matthäus lässt so die Bergpredigt beginnen. Jesus steigt auf den Berg, setzt sich und beginnt zu lehren (Mt 5,1). Auch Johannes kennt die Verbindung von Sitzen und Lehren: «Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es» (Joh 8,2). Wenn Markus noch bemerkt, dass Jesus sich gesetzt habe und «die Zwölf» zu sich gerufen habe, wird die ganze Sache schon sehr formal. Auf dem Weg war noch von den «Jüngern» (und Jüngerinnen) die Rede. Jetzt von den Zwölfen. Hier kommen die zwölf Stämme Israels ins Spiel. Was Jesus als Lehrender nun zu sagen hat, ist offiziell. Dessen Bedeutung reicht über ein zufälliges Gespräch hinaus. Wenn Jesus sich an die Zwölf wendet, wendet er sich an ganz Israel.

Jesus nimmt in dieser Lehre das Diskussionsthema der Jünger auf und beantwortet es in seiner Lehre an die Zwölf quasi offiziell: «Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein» (Mk 9,35). Wo in der Einheitsübersetzung «soll» steht, findet sich im Griechischen das Wort «sein» im Futur. Damit ist auch mit ausgedrückt, dass es in der Zukunft so sein wird. Im endzeitlichen Israel, das Jesus mit den Zwölfen symbolisch um sich gesammelt hat, ist die Hierarchie, die «Heilige Ordnung» programmatisch auf den Kopf gestellt. Dieses Israel stellt damit ein Gegenprogramm zum Römischen Reich dar, dessen «heilige Ordnung» deutlich anders strukturiert ist und im Kaiser seine unumstrittene Spitze hat.

Die (Lehr-)Antwort Jesu auf die Hierarchiediskussion der Jünger hat aber noch einen zweiten Teil, der auf den ersten Blick nicht ganz so klar ist. Jesus nimmt ein Kind in die Arme und sagt: «Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat» (Mk 9,37). Hat Markus hier ein überliefertes Jesus-Wort untergebracht, das sonst nirgendwo hingepasst hätte? Darauf könnte die Bearbeitung durch den Evangelisten Matthäus hindeuten. Dieser hat das Logion Jesu in den Zusammenhang mit den Kindern als Vorbildern für die Annahme des Reiches Gottes gesetzt (vgl. Mt 18,5). Das bedeutet, dass ihm die Aussage bei Markus bereits nicht mehr klar war. Er deutet sie in einem anderen Sinn: «In jener Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist im Himmelreich der Grösste? Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, das sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Grösste. Und wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf» (Mt 18,1–5). Kinder sind für Matthäus Modelle der Spiritualität. Lukas geht ganz ähnlich damit um: «Wer dieses Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. Denn wer unter euch allen der Kleinste ist, der ist gross» (Lk 9,46–48). Auch für Lukas sind die Kinder Modelle für Leitungspersonen in der Nachfolge Jesu. Markus macht jedoch eine andere Aussage. Er fordert im Blick auf die Hierarchie nicht, so zu werden wie Kinder. Vielmehr ist das Annehmen von Kindern etwas, das mit der Hierarchie zu tun hat. Kinder sind die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Das «Dienen», das die ersten unter den Jüngern auszeichnet, hat hier damit noch eine zusätzliche Bestimmung. Sie dienen den Kleinsten und Ausgesetztesten.

Damit wird das «Dienen» nochmals genauer spezifiziert. «Grösser» sind die, die sich in den Dienst der Kleinsten stellen. Das kirchliche Amt und die kirchliche Hierarchie haben darin nach Markus ihre Begründung und Berechtigung. Darüber nachzudenken könnte sowohl gesamtkirchlich als auch in der Gemeinde lohnend sein.