Wir beraten

Wünschst Du Dir, dass der Messias kommt?   

Peter Zürn zum Evangelium 24. Sonntag im Jahreskreis: Mk 8,27–35, SKZ 35/2012

 

Der Schriftsteller Jonathan Rosen fragte als Kind Vater und Mutter: «Wünschst du dir, dass der Messias kommt?» Sein Vater dachte sorgfältig nach und sagte: «Ja.» Seine Mutter antwortete: «Nein. Ich mag das Leben so, wie es ist.»1 Erst später verstand er die unterschiedlichen Antworten. Sein Vater war in den Dreissigerjahren in Wien aufgewachsen und hatte in der Shoah Eltern, Verwandte und Heimat verloren. Er wünschte sich eine radikale Veränderung der Welt, das Gericht über die Täter und die Auferstehung der Toten. Seine Mutter wuchs gut behütet in wohlhabenden Verhältnissen in New York auf. Sie wünschte sich keine andere Welt, sondern viel mehr vom Leben in dieser. In der jüdischen Familie Rosen kommen beide Wünsche in einer spannungsvollen und fruchtbaren Beziehung zusammen.

Was in den Schriften geschrieben steht

«Messias» bedeutet «der Gesalbte». König David wird als der «Gesalbte Gottes» bezeichnet (1 Sam 24,7; 26,9). Das wurde auf den jeweils regierenden König aus der Dynastie Davids übertragen. Der gesalbte König vergegenwärtigt das Königtum Gottes auf Erden. Die Königspsalmen (z.B. Ps 2) und die Natansverheissung (2 Sam 7) begründen dies. Die Propheten kritisierten später die Könige und begannen die entsprechenden Texte auf einen zukünftigen Heilskönig zu beziehen. Mit dem idealen König wurden umfassende Erwartungen verbunden (Weltherrschaft, allgemeines Wohlergehen, Wiederherstellung des Paradieses …). So wurde der messianische König immer mehr eine Figur der Endzeit (z.B. Jes 11,1–9; Mi 5,1–4). Die Messiasvorstellung ist aber keineswegs einheitlich. Für die Priesterschrift gilt der Hohepriester als Messias (Lev 4,3). Deuterojesaja erwartet einen «Knecht Gottes» als Heilsbringer (Jes 40,2) und legt den Titel auch dem Perserkönig Kyrus bei (Jes 45,1). Zur Zeit Jesu gehörte die Messiaserwartung fest zur jüdischen Eschatologie. Mehrmals traten Messiasanwärter auf, besonders bei den Aufständen gegen Rom 66–70 und 132– 135 n.u.Z.

Mit Markus im Gespräch

Die Messiasfrage fragt nach unseren Hoffnungen. Sie hängen von unseren Erfahrungen ab und vom Ort, an dem wir leben. «Für wen halten mich die Menschen?», fragt Jesus. Die Antwort hängt von den Erfahrungen der Gefragten ab und vom Ort, an dem sie leben, den «Dörfern bei Caesarea Philippi». Die Stadt nördlich des Sees Genezaret trägt den Caesar im Namen (den Beinamen Philippi verdankt sie dem Sohn von König Herodes, der ihr den Namen gab). Hier wird der Blick auf den Kaiser gelenkt. Auf das Machtzentrum des Reichs, das die Welt beherrscht, in der unser Text spielt. Die Menschen, nach deren Meinung Jesus fragt, gehörten wohl eher zu den Verlierern des Systems. Ihre Antworten nennen Gestalten, die in Opposition zu den Herrschenden standen und im Namen Gottes Solidarität und Gerechtigkeit einforderten. Die Leute in den Dörfern um Caesarea Philippi wünschen sich, dass es anders wird in der Welt – wie Herr Rosen. Jesus bringt die Jüngerinnen und Jünger mit den Menschen dieser Gegend in Verbindung, indem er sie ebenfalls fragt. Die Antwort des Petrus – «Du bist der Messias!» – stellt die Antworten der Leute in einen weiten Horizont, denn er gibt Jesus einen Titel, in dem die Hoffnungen des Volkes Israel zusammenfliessen. Die Jüngerinnen und Jünger haben erlebt, was «Messias» bedeutet. Sie haben angefangen, im Reich Gottes zu leben: Kranke wurden geheilt, Hungernde wurden satt, Geschichten vom Geschenk des Lebens in Fülle wurden erzählt. Ich bin sicher, Ihnen geht es wie Frau Rosen. Sie wünschen sich viel mehr vom Leben in dieser Welt. Beides, die Hoffnung auf eine ganz neue Welt und die Hoffnung auf viel mehr von dieser Welt, verbinden sich im Ausruf des Petrus. Die Jüngerinnen und Jünger drängt es zur Verkündigung. Jesus ist dagegen. Er lehrt sie: «Der Menschensohn müsse vieles erleiden (…), er werde getötet, aber nach drei Tagen werde er auferstehen» (Mk 8,31). Jesus wiederholt diese Lehre später mehrmals. Zum ersten Mal erklingt sie bei Caesarea Philippi. Der Ort ist im Markusevangelium ein Wendepunkt auf dem Weg der Jüngerinnen und Jünger. Sie werden nicht nach Galiläa zurückkehren (erst in Mk 16,7 werden sie wieder dahin geschickt). Von hier aus wird Jesus sie nach Jerusalem führen. Auf einen Lernweg, auch für uns Leserinnen und Leser. Lernen können wir v. a. mit Petrus. Er streitet mit Jesus über die Messiashoffnung. Wie andere jüdische Menschen dieser Zeit auch. Viele erwarteten einen Messias, der sie im Kampf gegen Rom an- und zum Sieg führen wird. Andere fürchteten, dass die Messiaserwartung zu einer Katastrophe führt. Leider konnten sich die verschiedenen Positionen nicht zu einer lebendigen Beziehung verbinden wie bei den Rosens. Der Aufstand gegen Rom im Jahr 66 wurde auch zum innerjüdischen Bürgerkrieg. Nach der Katastrophe des Krieges – also zur Zeit des Markus – standen die überlebenden jüdischen Führungspersönlichkeiten allen messianischen Bewegungen ablehnend gegenüber, auch der Nachfolgegemeinschaft des Messias Jesus. Im Streit zwischen Jesus und Petrus geht es also auch um die Beziehung zum Volk Israel. Denn damals wurde die Frage laut, ob die Ereignisse in Jerusalem nicht ein Zeichen dafür seien, dass Gott sein Volk verworfen und sich in den Anhängerinnen und Anhängern Jesu ein neues erwählt hat. Was anfänglich noch ein innerjüdischer Streit war, führte schliesslich zur Trennung von Judentum und Christentum. Jesus reagiert heftig auf Petrus. «Hinter mich, Satan!», ruft er aus. Er schickt Petrus nicht weg (so die Einheitsübersetzung). Er will Petrus wieder hinter sich bringen, zurück auf den Weg der Nachfolge, den Petrus doch gewählt hat und auf dem sie so viele heilsame Erfahrungen gemacht haben. Ich höre darin den Zuruf (auch an mich): Trau diesem Weg! Trau unserer Beziehung! Trau der Beziehung zum Gott des Lebens, der mit dem Volk Israel verbunden ist und den die Schrift bezeugt! Trau ihm auch in der Versuchung, die nicht von aussen kommt, sondern aus der Mitte des eigenen Kreises. Der Messias Jesus wählt den Weg der Treue in der Beziehung zu seinem Gott und seinem Volk. Er geht nach Jerusalem, um dort mit Israel zu leiden, wenn es von den Herrschenden in Rom und im eigenen Volk gekreuzigt wird. In Caesarea Philippi – wo die römischen Legionen vor dem Marsch auf Jerusalem ihr Lager aufgeschlagen hatten – geht es um die Versuchung, die Welt aus der Perspektive des Kaisers, mit den Augen der Sieger zu sehen und dabei sich selbst untreu zu werden. Sich treu bleiben, d. h. Jünger sein, kann heissen, sich zu verleugnen. Petrus wird dieser Lernaufgabe wieder begegnen. In der Beziehung zu bleiben, rettet das Leben. Auch wenn das Konsequenzen hat und Leid nicht erspart. Auch wenn uns das nicht zu Siegertypen macht. In welcher Weite sich diese Beziehung gestalten lässt, dafür sind die Rosens ein Beispiel. Das Beziehungsnetz des biblischen Gottes lädt uns ein, mit Herrn Rosen für das Leben in dieser Welt zu hoffen, mit Jesus solidarisch mit den Opfern dieser Welt zu sein und mit Frau Rosen das Leben in dieser Welt vertrauensvoll zu geniessen.