Wir beraten

«Wollt auch ihr weggehen?»   

Franz Annen zum Evangelium am 21. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,60–69, SKZ 31-32/2012

 

Der Leseabschnitt bildet den Abschluss der langen Rede Jesu über das «Brot des Lebens» (Joh 6,24–59). Er schildert die Reaktion der Zuhörer: Viele Jünger ärgern sich und verlassen Jesus; Simon Petrus aber legt im Namen der Zwölf ein Bekenntnis zu ihm ab. Die beiden Verse 70–71 über Judas Iskariot, die eigentlich noch zum Abschnitt gehören, sind in der Leseordnung weggelassen. Dadurch endet das Sonntagsevangelium zwar «positiv»; aber ein wichtiger Akzent des Textes fällt so weg.

Was in den Schriften geschrieben steht

Im seinem Bekenntnis braucht Simon Petrus einen ungewöhnlichen und seltenen Titel für Jesus (6,69): «Du bist der Heilige Gottes.» Er kommt sonst im Johannesevangelium nicht vor und im ganzen NT nur noch einmal, und zwar im Munde eines Besessenen bzw. seines Dämons (Mk 1,24 par. Lk 4,34): «Ich weiss, wer du bist: der Heilige Gottes.» In der Bibel und im Judentum ist vor allem Gott selbst der Heilige. «Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heere», rufen die Serafim in der Berufungsvision in Jes 6,3. Und Ps 99 schliesst: «Rühmt den Herrn, unsern Gott, werft euch nieder an seinem heiligen Berge! Denn heilig ist der Herr unser Gott.» Er ist der «Heilige Israels» (Jes 10,20; 30,15; 45,11; Ez 397). Freilich können auch Menschen oder Gegenstände heilig sein, weil sie in besonderer Weise zu Gott gehören. Das Volk Israel ist heilig und soll heilig sein (Lev 19,2), weil es das erwählte Volk Gottes ist. Der Tempel ist heilig, weil in ihm Gott wohnt (vgl. Ex 15,17). Wenn einzelne Menschen heilige genannt werden (Elischa in 2 Kön 4,9; Aaron in Ps 106,16), dann zeigt das ihre ganz besondere Beziehung zu Gott an. Im Zusammenhang der Brotrede Jesu passt die Titulatur besonders gut. Jesus hat ausführlich erklärt, dass er das «Brot des Lebens » ist, das von Gott kommt. Der Vater selbst gibt «euch das wahre Brot vom Himmel. Denn das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab, und gibt der Welt das Leben» (6,32–33). Dieses Brot ist Jesus selbst in Person: «Ich bin das Brot des Lebens» (6,35.48 vgl. 6,51). Er ist vom Himmel herab gekommen, nicht um seinen Willen zu tun, sondern den des Vaters, der ihn gesandt hat (6,38). «Es ist der Wille meines Vaters, dass alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, das ewige Leben haben und dass ich sie auferwecke am Letzten Tag» (6,40). Jesus gehört so eng zu Gott, dass in ihm der Glaubende Gott selbst begegnet, dem Gott, von dem Jesus in Joh 3,16 gesagt hat: «Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.» So wird er von Simon Petrus mit Recht «der Heilige Gottes» genannt. Es ist ein Titel, der die ganze Sendung Jesu, die in seiner Rede eben zum Ausdruck kam, treffend zusammenfasst. In dieser Rede konkretisierte Jesus die Gabe des Lebens, das Gott in ihm schenkt, zweifach: 6,54 ist sie an das Essen des Brotes gebunden: «Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag.» In 6,63 sind es die Worte Jesu, die «Geist und Leben» sind. Und so begründet Petrus sein Bleiben mit Jesus: «Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens» (6,68). In der jüdischen Bibel, besonders im Deuteronomium, schenkt das Wort Gottes in der Tora Leben und Heil: «Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben …» (Dtn 30,16). Nun ist es Jesus in Person, der dieses Leben schenkende Wort Gottes ist. Man darf daraus nicht den Gegensatz zwischen einer jüdischen «Gesetzesreligion » und der christlichen Heilsbotschaft ableiten, wie es leider oft in der Vergangenheit geschah. Die Tora ist für Juden das dem Volk Israel geschenkte Wort Gottes, das Heil vermittelt und Lebensanweisungen zum Heil des Volkes gibt. Wer Ps 119 mit offenem Herzen liest, wird nie mehr von «Gesetzesreligion» sprechen. Für Christen ist Jesus nun «die neue Tora»; und das ist genauso wenig «gesetzlich » gemeint: Er ist für sie das Mensch gewordene Wort Gottes, das Leben schenkt.

Mit Johannes im Gespräch

Wenn das Johannesevangelium im besprochenen Abschnitt von der Spaltung der Jünger Jesu und dem Weggehen vieler spricht, erzählt der Evangelist nicht nur ein Ereignis aus dem Leben Jesu, sondern reflektiert auch die Wirklichkeit seiner eigenen Ortskirche, die offenbar eine Krise durchlebt. Dafür finden sich im Evangelium selbst viele Spuren. Deutlicher ausgesprochen wird sie in den Johannesbriefen. Es sind Irrlehrer aufgetreten, die «leugnen, dass Jesus der Christus ist» (1 Joh 2,22; vgl. 4,2; 2 Joh 7). Die Scheidung geschieht also im Christus-Glauben (1 Joh 5,1): «Jeder, der glaubt, dass Jesus der Christus ist, stammt von Gott.» Es kommt zur Spaltung; einige haben sich unter der Führung eines gewissen Diotrephes abgesetzt; man schliesst sich gegenseitig aus der Gemeinschaft aus (3 Joh 9–10). Diese Kirchensituation kommt uns nicht ganz unbekannt vor. Es ist auch in unserer Kirche heute nicht selten, dass man sich gegenseitig den echten Glauben abspricht. Und mancher Seelsorger, der die immer leerer werdenden Kirchenbänke am Sonntag und die immer kleiner werdende Herde bei Pfarreiveranstaltungen erlebt, ist versucht, zu den wenigen Getreuen zu sagen: «Wollt auch ihr weggehen?» (Joh 6,67). Freilich, jene vielen, die sich heute zurückziehen und nicht mehr mit der Jüngergemeinschaft umherwandern (vgl. Joh 6,66), tun es meist nicht, weil sie sich über Jesus ärgern und an ihm Anstoss nehmen. Schon eher ärgern sie sich über die Kirche und ihre Vertreter. Bei vielen steht gar keine besonders grundsätzliche Entscheidung dahinter, sondern einfach Gleichgültigkeit oder fehlendes Interesse. Und doch: «Worte des Lebens» scheinen wir alle zu suchen. Wie sonst soll man den Zulauf zu den verschiedensten religiösen Sondergruppen und esoterischen Angeboten, den Boom von Astrologen und Wahrsagerinnen verstehen? Das oberflächliche Geniessen von Konsum und Vergnügen scheint den Menschen auch heute nicht zu genügen, spätestens dann nicht mehr, wenn sie an die Grenzen des Geniessenkönnens gelangen, wenn Krankheit, Tod oder andere Grenzerfahrungen nach ihnen greifen. Dann sehnen wir uns nach Worten, die das Leben tragen können, auch an den Grenzen. Jesus spricht in seiner Botschaft von einem solchen Leben; einem Leben, das durch seinen Tod und seine Auferstehung «geeicht» ist; einem Leben, das nicht stirbt, auch im Tode nicht; einem Leben gar, das erst im Tode sich voll entfaltet. Das glauben zu können, ist ein grosses Geschenk, das vom Vater gegeben wird (6,66). Zur Zeit Jesu fassten es viele seiner Jünger nicht. Selbst einer von den Zwölf wechselte die Seite, wie in Anspielung auf Judas Iskariot am Schluss des Abschnitts steht (6,70–71). Auch heute gehen viele anderswo suchen. Und wir? Fühlen wir uns von Simon Petrus vertreten, der Jesus antwortet: «Herr, zu wem sollen wir gehen?», nicht aus Resignation, sondern hoffnungsvoll, weil er glaubt: «Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes.» (6,68–69)?