Wir beraten

Von der Katastrophe zur Erneuerung   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 20. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,51–58, SKZ 31-32/2012

 

Unser Text bildet den Abschluss der längeren Passage im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums, in denen immer wieder Brot, Essen und Trinken thematisiert werden. Die Verse 6,51–58 wurden von der älteren Johannesforschung als späterer Einschub betrachtet, da sie – so die Behauptung – anachronistisch auf das Sakrament der Eucharistie anspielten. Diese These wird von jüngeren Neutestamentlerinnen und Neutestamentlern nicht mehr vertreten: Auch Johannes 6,51–58 ist aus der frühjüdischen und urchristlichen Gedankenwelt des Johannes zu verstehen. Johannes bettet unseren Text zeitlich zwischen Pessach (Joh 6,4) und dem Laubhüttenfest (Joh 7,2), also im Hochsommer, ein. Die Sommerzeit ist – im Mittelmeerraum – nicht nur eine Zeit der Hitze und der Dürre, sondern im jüdischen Kalender auch eine Zeit der Trauer: Am neunten Tag des Monates Av, der dieses Jahr Ende Juli stattfindet, wird gefastet und der Zerstörung der beiden Tempel sowie weiterer Katastrophen, die das jüdische Volk betrafen, gedacht.

«Was in den Schriften geschrieben steht»

Johannes flicht in seinen Text zahlreiche Hinweise und Anspielungen auf die hebräische Bibel ein, in denen es neben dem «Leitmotiv » Essen und Trinken auch immer wieder um Katastrophe und Erlösung geht. Die Exoduserzählung, eine Erzählung, die nicht nur vom Aufbruch ins Gelobte Land, sondern auch von Flucht und Heimatlosigkeit berichtet, durchzieht das gesamte sechste Kapitel wie ein roter Faden: Hunger und Durst sowie Essen und Trinken, Brot und Manna sind wiederkehrende Motive. Weitere Themen wie das «Murren» der Disputpartner Jesu (Joh 6,41–43) assoziieren die Wüstenwanderung. Auch das «Streiten» in unserer Passage (Joh 6,52) erinnert an die Konflikte während der Wüstenwanderung: So stritt das Volk mit Moses in der Wüste: «Weil das Volk kein Wasser zu trinken hatte, geriet es mit Moses in Streit» (Ex 17,2, ähnlich Num 20,3). Und das Wasser, das Moses daraufhin aus dem Felsen schlägt, wird «Streitwasser» genannt, weil die «Israeliten mit dem Herrn gestritten» hatten (Num 20,13). Diese «Streitsucht» des Volkes hat demnach einen guten Grund: Er liegt im Durst des Volkes. Auch die Anhänger Jesu sind «durstig» und «hungrig», nach Brot und Wasser, aber auch nach politischer Stabilität, nach äusserem und innerem Frieden. Ihre negative Reaktion auf die Worte Jesu (Joh 6,60) ist vielleicht auch Ausdruck der Enttäuschung, dass Jesus ihren Hunger und Durst nicht so stillt, wie sie es sich vorgestellt und erhofft hatten. «Essen» und Trinken» bezeichnen in der hebräischen Bibel nicht nur die tatsächliche Nahrungsaufnahme, sondern werden auch metaphorisch als Lernen und Aufnehmen des Wortes Gottes verstanden: So lädt die Weisheit in Prov 9,1–6 ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen und auf ihrem Wege zu gehen: «Sie [= die Weisheit] hat ihr Vieh geschlachtet, ihren Wein gemischt und schon ihren Tisch gedeckt (…). Wer unerfahren ist, kehre hier ein. Zum Unwissenden sagt sie: Kommt, esst von meinem Mahl, und trinkt vom Wein, den ich mischte. Lasst ab von der Torheit, dann bleibt ihr am Leben, und geht auf dem Weg der Einsicht!» (Prov 9,2–6). Ganz ähnlich bittet die Weisheit in Sir 24 zu Tisch, nur bereitet sie nicht wie in den Sprichwörtern eine Mahlzeit zu, sondern bietet sich selber – ähnlich wie Jesus bei Johannes – als Nahrung an: «Wie ein Weinstock trieb ich schöne Ranken, meine Blüten wurden zu prächtiger und reicher Frucht (…). Kommt zu mir, die ihr mich begehrt, sättigt euch an meinen Früchten!» (Sir 24,17–19). In den prophetischen Schriften erscheint das Motiv «Essen» auch im Zusammenhang mit der Erlösung aus höchster Not, mit der Hoffnung auf Leben wie bei Johannes: So verspricht Jesaja dem geschundenen und zerstörten Jerusalem Folgendes: «Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser! (…) Hört auf mich, dann bekommt ihr das Beste zu essen und könnt euch laben an fetten Speisen. Neigt euer Ohr mir zu, und kommt zu mir, hört, dann werdet ihr leben» (Jes 55,1–3). Und gemäss Jer 15,16 erinnert der verzweifelte Prophet Gott daran, dass er Gottes Worte «verschlungen habe» (Jer 15,16). Bei Jesaja ebenso wie bei Sirach sind Anklänge an eine paradiesische Metaphorik unüberhörbar!

Der Prophet Ezechiel wird schliesslich von Gott aufgefordert, vor seiner Sendung zum Volk eine Buchrolle zu essen. Diese enthält offenbar die Botschaft, die Ezechiel verkünden soll: «Und ich sah: Eine Hand war ausgestreckt zu mir; sie hielt eine Buchrolle. (…). Er sagte zu mir: Menschensohn, iss, was du vor dir hast. Iss diese Rolle! Dann geh und rede zum Haus Israel! Ich öffnete meinen Mund, und er liess mich die Rolle essen. Er sagte zu mir: Menschensohn, gib deinem Bauch zu essen, fülle dein Inneres mit dieser Rolle, die ich dir gebe. Ich ass sie, und sie wurde in meinem Mund süss wie Honig» (Ez 2,9–3,3).

Im Hohenlied ist «Essen» ein Ausdruck für die Erfüllung der Liebe: «In seinem Schatten begehre ich zu sitzen. Wie süss schmeckt seine Frucht meinem Gaumen!» (Cant 2,3). Mit «Essen» und «Trinken» können schliesslich in der jüdischen (und christlichen) Tradition auch die paradiesischen Freuden beschrieben werden. Damit ist in der hebräischen Bibel ein Bedeutungspanorama rund um das Thema «Essen» aufgespannt, aus dem Johannes schöpft: Neben der konkreten Nahrungsaufnahme sind mit «Essen» und «Trinken» auch das lebensspendende Hören des Wortes Gottes bzw. das Einhalten seiner Weisungen gemeint. Auch die paradiesische Einheit zwischen den Liebenden bzw. – in der traditionellen jüdischen und christlichen allegorischen Interpretation – die Einheit zwischen Gott und seinem Volk kann damit ausgedrückt werden.

Im Gespräch mit Johannes

Am neunten Tag des Monats Av wird an die Zerstörung des Tempels, des Orts der Anwesenheit Gottes par excellence, erinnert. Für Johannes und seine Gemeinde ist Jesus dieser Ort der Anwesenheit Gottes. Der neunte Av ist dabei aber nicht nur ein Tag der Trauer, sondern auch ein Tag der Hoffnung: An diesem Tag wurden nämlich nicht nur die beiden Tempel zerstört, sondern gemäss einer Auslegung zum Buch der Klagelieder auch der Messias geboren: «Der Messias, der Erlöser, ist am gleichen Tag geboren, an dem der Tempel zerstört wurde» (Midrasch Eikha Rabba zu Klg 1,1). Jesu Tod ist katastrophal – Johannes nimmt denn auch kein Blatt vor den Mund und spricht wiederholt von «Blut» und von «Fleisch». Dies ist keine Anspielung auf die Eucharistie, sondern auf den gewaltsamen Tod Jesu. Jesu Tod birgt aber den Keim zur Erlösung und zum Wiederbeginn. Diese Erlösung ist aber keine automatische Folge des Opfertodes Jesu, sondern wird erst möglich, wenn die Menschen sein Fleisch essen und sein Blut trinken (vgl. Jo 6,54), d. h. wenn sie aktiv werden, Jesu Botschaft «verschlingen» (Jer 15,16) und sich «einverleiben» (Ezechiel). In den oben zitierten Passagen aus der hebräischen Bibel, auf die Johannes zurückgreift, erscheint auffällig häufig das Wort «Kommen »: Gott hat das Mahl bereitet, aber der Mensch muss selbst kommen und essen, damit dieses sättigen kann.