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Alles nur ein Plagiat?   

Winfried Bader zum Evangelium am Hochfest Mariä Aufnahme in den Himmel (15.08.): Lk 1,39–56, SKZ 29-30/2012

 

In unserer Zeit muss jeder Autor genau nachweisen, woher welcher Gedanke stammt. Und dann dürfen die Zitate nur einen Teil seines Werks ausmachen, denn sonst gilt es nicht mehr als originell.

Was in den Schriften steht

Maria kümmert sich nicht um diese modernen Regeln. Ihr ganzes Lied besteht ausschliesslich aus Zitaten, die natürlich von Lukas nicht nachgewiesen werden. Es lohnt sich, dem einmal genau nachzugehen, und aufzulisten, woher die Wörter und Sätze Marias stammen.1

46 Meine Seele preist die Grösse des Herrn,

Ich will den Namen des Herrn verkünden. Preist die Grösse unseres Gottes! (Dtn 32,3).

Sie beginnen zu jubeln, sie preisen die Grösse des Herrn (Jes 24,14).

Hört, ihr Könige, horcht auf, ihr Fürsten! Ich will dem Herrn zu Ehren singen, ich will zu Ehren des Herrn, des Gottes Israels, spielen (Ri 5,3).

Die Richterin Debora und gleich dann auch das Danklied der Hanna nimmt sich hier Maria zum Vorbild.

47 und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.

Dennoch will ich jubeln über den Herrn und mich freuen über Gott, meinen Retter (Hab 3,18).

Meine Seele rühme sich des HERRN, die Gebeugten sollen es hören und sich freuen
(Ps 34,3).

Adressaten des Lieds – wie eigentlich der ganzen Bibel – sind die Gebeugten, was auch unten in Vers 52, der die meisten Paralleltexte aufweist, deutlich wird.

Weit öffnet sich mein Mund gegen meine Feinde; denn ich freue mich über deine Hilfe
(1 Sam 2,1).

48 Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.

Sie machte ein Gelübde und sagte: Herr der Heere, wenn du das Elend deiner Magd wirklich ansiehst, wenn du an mich denkst und deine Magd nicht vergisst und deiner Magd einen männlichen Nachkommen schenkst, dann will ich ihn für sein ganzes Leben dem Herrn überlassen; kein Schermesser soll an sein Haupt kommen (1 Sam 1,11).

Durch die Anspielung auf Hanna deutet sich an, dass auch Jesus ein besonderer Mensch ist. Der Nasiärer des AT wird dann im NT zum Nazoräer.

Lea sagte: Mir zum Glück! Denn die Frauen werden mich beglückwünschen. So nannte sie ihn Ascher [Glückskind] (Gen 30,13).

49 Denn der Mächtige hat Grosses an mir getan und sein Name ist heilig.

Für dich hat er all das Grosse und Furchterregende getan, das du mit eigenen Augen gesehen hast (Dtn 10,21).

Grosses hat der HERR an uns getan, wir waren voll Freude (Ps 126,3).

Er gewährte seinem Volk Erlösung und bestimmte seinen Bund für ewige Zeiten. Furcht gebietend ist sein Name und heilig (Ps 111,9).

Niemand ist heilig, nur der Herr; denn ausser dir gibt es keinen Gott; keiner ist ein Fels wie unser Gott (1 Sam 2,2).

50 Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.

Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten. Doch die Huld des Herrn währt immer und ewig für alle, die ihn fürchten und ehren; sein Heil erfahren noch Kinder und Enkel; (Ps 103,13.17).

51 Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten:

Singt dem Herrn ein neues Lied; denn er hat wunderbare Taten vollbracht. Er hat mit seiner Rechten geholfen und mit seinem heiligen Arm (Ps 98,1).

Heute sollt ihr erkennen, dass der Herr euch erzogen hat. Denn nicht eure Kinder, die die Erziehung durch den Herrn, euren Gott, nicht kennen gelernt und nicht miterlebt haben, sondern ihr selbst habt alle grossen Taten, die der Herr getan hat, mit eigenen Augen gesehen, seine Macht, seine starke Hand und seinen hoch erhobenen Arm (Dtn 11,2).

Deine Rechte, HERR, ist herrlich in Kraft; deine Rechte, HERR, zerschmettert den Feind (Ex 15,6).

Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind;

Rahab hast du durchbohrt und zertreten, deine Feinde zerstreut mit starkem Arm (Ps 89,11).

52 er stürzt die Mächtigen vom Thron

Der Bogen der Helden wird zerbrochen, die Wankenden aber gürten sich mit Kraft (1 Sam 2,4).

und erhöht die Niedrigen.

Und das demütige Volk rettest du; aber deine Augen sind gegen die Hochmütigen, du erniedrigst sie (2 Sam 22,28).

Ich, Nebukadnezar, rühme und erhebe und verherrliche den König des Himmels, dessen Werke allesamt Wahrheit und dessen Wege Recht sind und der die erniedrigen kann, die in Stolz einhergehen (Dan 4,34).

So spricht Gott, der Herr: Weg mit dem Turban, herunter mit der Krone! Nichts soll bleiben, wie es ist. Das Niedrige wird hoch, das Hohe wird niedrig (Ez 21,31).

Der Herr hilft den Gebeugten auf und erniedrigt die Frevler (Ps 147,6).

Niedere hoch zu erheben, damit Trauernde glücklich werden (Ijob 5,11).

Er lässt Priester barfuss gehen, alte Geschlechter bringt er zu Fall (Ijob 12,19).

Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und er erhöht. Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub und erhöht den Armen, der im Schmutz liegt; er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen, einen Ehrenplatz weist er ihm zu (1 Sam 2,7–9).

Es ist kein Zufall, dass die meisten Belege – und es wurden gar nicht alle angeführt – hier sind, wo das bisherige Sozialgefüge gekehrt, das Engagement für die Niedrigen und Armen ausgesprochen wird.

53 Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.

Die Satten verdingen sich um Brot, doch die Hungrigen können feiern für immer (1 Sam 2,5).

Er sättigt die lechzende Seele, die hungernde Seele erfüllt er mit seinen Gaben (Ps 107,9).

Reiche müssen darben und hungern; wer aber den Herrn sucht, braucht kein Gut zu entbehren (Ps 34,11).

54 Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen,

Du, mein Knecht Israel, du, Jakob, den ich erwählte, Nachkomme meines Freundes Abraham: Ich habe dich von den Enden der Erde geholt, aus ihrem äussersten Winkel habe ich dich gerufen. Ich habe zu dir gesagt: Du bist mein Knecht, ich habe dich erwählt und dich nicht verschmäht (Jes 41,8–9).

Er dachte an seine Huld und an seine Treue zum Hause Israel. Alle Enden der Erde sahen das Heil unsres Gottes (Ps 98,3).

55 das er unsern Vätern verheissen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.

Du wirst Jakob deine Treue beweisen und Abraham deine Huld, wie du unseren Vätern geschworen hast in den Tagen der Vorzeit (Mi 7,20).

Seinem König verlieh er grosse Hilfe, Huld erwies er seinem Gesalbten, David und seinem Stamm auf ewig (2 Sam 22,51).

Ich schliesse meinen Bund zwischen mir und dir samt deinen Nachkommen, Generation um Generation, einen ewigen Bund: Dir und deinen Nachkommen werde ich Gott sein (Gen 17,7).

Mit Lukas im Gespräch

Lukas stellt Maria in die Reihe der grossen Frauen Debora und Hanna und Judith (Lk 1,42 spielt auf Jdt 13,18 an). Um Worte für ihr Gebet zu finden, bedient sie sich der Gebetssprache der Psalmen, die auch uns heute noch immer wieder Gebetsworte in den Mund legen. Der Glaube an die Befreiung aus Ägypten, der Glaube an den Bund mit Abraham, die grossen Verheissungen der Propheten ist der theologische Kontext.

Lukas findet durch die alten Texte eine Sprache, die seinen Hörern vertraut ist und in der er ihnen die Botschaft vom befreienden Handeln Jesu ankündigen kann.