Wir beraten

Immer nur Manna?   

Dieter Bauer zum Evangelium am 19. Sonntag im Jahreskreis (12.08.): Joh 6,41–51, SKZ 29-30/2012

 

Die Feinsinnigeren unter den Leserinnen und Lesern mögen entschuldigen, wenn ich in ein so «steiles» Tagesevangelium wie das vom «Brot des Lebens» mit einer Episode aus der humoristischen Satire «Der Münchner im Himmel» des bayerischen Schriftstellers Ludwig Thoma einführe. Dort ist der Dienstmann Alois Hingerl sehr empört, als er im Himmel als Engel Aloysius ständig «Halleluja» singen soll. Und die einzige Nahrung, die ihn dort erwartet, ist das himmlische Manna. Ihn aber gelüstet nach einer gehörigen Mass Bier: «Euer Manna könnts selber saufen», schimpft er empört.

Ob Ludwig Thoma die biblische Parallele zu dieser Geschichte kannte, weiss ich nicht. Jedenfalls hat die Empörung des bayerischen Dienstmanns Alois Hingerl ihr Vorbild im Murren der Hebräer in der Wüste, als sie sich zurücksehnen nach Ägypten wie Alois nach dem Hofbräuhaus: «Doch jetzt vertrocknet uns die Kehle, nichts bekommen wir zu sehen als immer nur Manna» (Num 11,6).

«… wie es in den Schriften geschrieben steht»

Sicher aber ist, dass der Verfasser des Johannesevangeliums seine Heiligen Schriften kannte und sie gerne zitiert. So nimmt er dieses «Murren» der Hebräerinnen und Hebräer auf, wenn er schreibt: «Da murrten die Juden gegen ihn (d. i. Jesus), weil er gesagt hatte: Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist» (Joh 6,41). Dieser Bezug ist auch deshalb so eindeutig, weil es in beiden Texten um «Brot vom Himmel» geht. Was aber ist das Problem der «Juden» im Johannesevangelium? «Sie sagten: Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel herabgekommen?» (V. 42).

Die «Juden» – der in Anführungszeichen gesetzte Begriff meint nicht die historischen Mitmenschen Jesu, sondern die Gegner der christlichen Johannesgemeinden – sehen da einen Widerspruch: Entweder ist Jesus ein ganz normaler Mensch (und das ist er, da ja seine menschlichen Eltern bekannt sind), oder er kommt von Gott, also «vom Himmel» herab. Dass das aber kein Widerspruch sein muss, betont das Johannesevangelium von Anfang an: «Das Wort ist Fleisch geworden / und hat unter uns gewohnt» (1,14). Trotzdem kommt diese Botschaft nicht an. Und der Messias Jesus muss sich immer wieder mit diesem Missverständnis auseinandersetzen.

«Murrt nicht!», sagt er. «Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zu mir zieht» (6,43f). Was hier auf den ersten Blick wie ein neues Thema erscheint, ist doch das alte: Gott, der Vater, hat die Hebräer durch die Wüste geführt. Er hat ihnen in Mose, Mirjam und Aaron Führungspersönlichkeiten gegeben. Und er hat sie das Manna, das Brot der Freiheit, kosten lassen, nachdem sie sich gegen diese Führung gewandt hatten. Und er wird sie weiter durch die Wüste «ziehen» in Richtung Freiheit, wie der Prophet Hosea bemerkte: «Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, / mit den Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die, die den Säugling an die Brust nimmt. / Ich neigte mich ihm (d. i. Israel) zu und gab ihm zu essen» (Hos 11,4). Dieses «Ziehen» der himmlischen Mutter hat nur ein einziges Ziel: die Ermöglichung der Freiheit, des aufrechten Ganges, das, was «Auferstehung» meint (Joh 11,44: «und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag»).

Diese Freiheit aber ist schwer zu erreichen, weil Menschen sich seit jeher lieber von irgendwelchen Pharaonen abhängig gemacht haben, als selbst Verantwortung für ihr eigenes Leben und das ihrer Mitmenschen zu übernehmen. So haben die Hebräer in der Wüste das himmlische Brot der Freiheit abgelehnt – und sind konsequenterweise nie im gelobten Land angekommen: «Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben» (6,49). Und die «Juden», mit denen die Johannesgemeinden zu tun hatten, haben den Messias abgelehnt, das «Brot des Lebens» (6,48).

Diese Tragik der Ablehnung dessen, was doch das «wahre Leben» wäre, reflektiert nicht erst das Johannesevangelium. Bereits die Exilspropheten haben sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, warum Menschen sich immer wieder in neue Abhängigkeiten begeben, anstatt auf Gott und sein Wort zu hören. Jeremia z. B. meint, dass das an einer Art göttlicher Pädagogik liegt, die immer wieder missverstanden wird: Der Bund, den Gott geschlossen hatte, als er die Hebräer «bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen» (Jer 31,32), war gebrochen worden. Dieser «Vatergott», der das Kind bei der Hand nimmt, war nicht als der «himmlische Vater» akzeptiert worden. Am Feindbild der Führers Mose hatten sich die Hebräer ständig abgearbeitet, weil sie sich von ihm abhängig gemacht und unselbständig fühlten. Jeremia sieht nur eine einzige Möglichkeit: Wenn Gott nicht mehr belehrend über Mittler eingreift, sondern die Herzen der Menschen selbst in Beschlag nimmt: «Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein» (Jer 31,33).

Dies hätte allerdings radikale Konsequenzen im Hinblick auf das Lernen und Lehren des Wortes Gottes: «Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, Klein und Gross, werden mich erkennen – Spruch des Herrn» (Jer 31,34). Und eben darauf (und Jes 54,13) nimmt das Johannesevangelium Bezug, wenn Jesus die Propheten zitiert: «Bei den Propheten heisst es: Und alle werden Schüler Gottes sein. Jeder, der auf den Vater hört und seine Lehre annimmt, wird zu mir kommen» (Joh 6,45).

Im Gespräch mit Johannes

Hier haben wir nun eine interessante Parallelisierung: In Joh 6,44 hiess es: «Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater (…) ihn zu mir zieht», und einen Vers weiter heisst es: «Jeder, der auf den Vater hört und seine Lehre annimmt, wird zu mir kommen.» Das bedeutet doch, dass das «Ziehen» des Vaters dem «Hören und Annehmen seiner Lehre» entspricht. Da nun aber Jesus selbst das Wort ist, geht der Weg zum Vater nur über ihn und seine Beziehung zum Vater: «Niemand hat den Vater gesehen ausser dem, der von Gott ist; nur er hat den Vater gesehen» (Joh 6,46).

Was die Menschen sehen, ist Jesus, «der Sohn Josefs» (Joh 6,42). Mehr gibt es nicht zu sehen. Dass in ihm das Wort Fleisch geworden ist, dass in ihm «Hören und Annehmen der Lehre des Vaters» konkret geworden sind, gilt es zu glauben: «Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben» (Joh 6,47). Bereits Rudolf Bultmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass dies natürlich ein in sich geschlossener Kreis ist: «Es glaubt nur, wer glaubt.» Da gibt es keine Begründungen, etwa aus der Vernunft. Wer sich darauf nicht einlassen will oder kann, wie die «Juden» des Johannesevangeliums, kann auch mit diesem «Brot des Lebens» (Joh 6,48) nichts anfangen. Der Evangelist aber ist überzeugt davon: «Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben» (Joh 6,50). Es geht also wirklich um eine Frage der Glaubwürdigkeit: Wer das von Gott gesandte Manna in der Wüste seines Lebens nicht als «Brot vom Himmel» zu erkennen vermag, verpasst das ewige Leben. Da ist sich das Johannesevangelium einig mit den Worten der Tora!