Wir beraten

Am anderen Ufer der Erfahrung   

Peter Zürn zum Evangelium am 18. Sonntag im Jahreskreis: Joh 6,24–35, SKZ 29-30/2012

 

Es sind «Brotwochen», durch die uns die Leseordnung führt. Das Brotwunder nach Markus am 16. Sonntag im Jahreskreis, das Brotwunder nach Johannes am 17., die Brotrede Jesu am 18., 19. und 20. Sonntag. Ursula Rapp hat die politische Dimension des Brotes aufgezeigt: Jesus verbindet sich und seine Nachfolgerinnen und Nachfolger mit den hungernden Menschen, die unter ungerechten Verhältnissen leiden, für die die schlechten Hirten verantwortlich sind. Hans Rapp hat aufgezeigt, dass Johannes seine Brotgeschichte von der Geschichte des Elischa her erzählt: Der Ort, wo die Fülle des Brotes erfahrbar wird, der Ort, wo Jesus ist, ist der Ort Gottes, ein neuer Tempel.

Was in den Schriften geschrieben steht

Am Anfang der heutigen Perikope wird dieser Ort aufs Neue gesucht. Die Menschen suchen zuerst dort, wo sie die Erfahrung gemacht haben, dass Brot in Fülle für sie da ist. Aber da ist Jesus nicht mehr. Die Erfahrung ist vorüber. Sie suchen und finden ihn schliesslich am «anderen Ufer des Sees», in Kafarnaum. Wo genau, steht hier nicht. Meine Ausgabe der Einheitsübersetzung nimmt es in der Zwischenüberschrift vorweg, wenn sie von der «Rede in der Synagoge von Kafarnaum» spricht. Das Evangelium verrät erst am Ende der Rede, in Vers 59, wo sich all das abgespielt hat. Ein Zufall? Ein Versäumnis? Wohl kaum. Stattdessen setzt Johannes damit wohl einen wichtigen Schlussimpuls für das Verständnis des gesamten Textabschnittes:

Der Ort der Erfahrung ist wichtig. Er ist das Erste. Aber der Ort der Deutung des Erlebten, der Ort am anderen Ufer der Erfahrung, ist genauso wichtig. Auch er ist Ort Gottes, ein neuer Tempel. Und dieser Ort ist: die Synagoge. Was geschieht an diesem Ort?

  • Hier wird gelehrt: «Amen, amen, ich sage euch …»;
  • Hier wird gefragt: «Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen?»
  • Hier wird die Schrift gelesen und ausgelegt. Es wird die gegenwärtige Erfahrung der Menschen mit den Zeugnissen der Tradition in Verbindung gebracht: Die Menschen erinnern: «Unsere Väter haben das Manna in der Wüste gegessen, wie es in der Schrift heisst: Brot vom Himmel hat er uns gegeben» (Ps 78,24 als nacherzählende Auslegung von Ex 16); Jesus macht diese Erfahrung gegenwärtig: «Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch …»;
  • Hier wird auch gemurrt (6,41), wie während der Wüstenwanderung des Volkes, und es wird gestritten (6,52), wobei sich Jesus durchaus als leidenschaftlicher Mitstreiter erweist.

Dieser Ort, die Synagoge, der Ort der Lehre und des Lernens, der Auseinandersetzung und der Verbindung der Gegenwart mit der Überlieferung, ist genauso wichtig wie der Ort der Erfahrung. Nimmt man die Anzahl Verse als Massstab, die Johannes den beiden Orten einräumt – 15 für die Erfahrung und 30 für das Gespräch darüber –, scheint ihm der Ort «am anderen Ufer», die Reflexion nach der Erfahrung, eher noch wichtiger zu sein. Auf jeden Fall ist auch dieser Ort der Ort Gottes.

Hier liesse sich über die Verbindung des «anderen» Ufers/Ortes mit der Gegenwart Gottes über den jüdischen Gottesnamen «ha-maqom», der (andere) Ort, nachdenken. Dieser Gottesname geht auf eine Stelle im Buch Ester zurück: «…»«‚dann wird den Juden anderswoher Hilfe und Rettung kommen» (Est 4,14). In die Bibel in gerechter Sprache hat «ha-Makom» als Gottesname Eingang gefunden. Magdalene Frettlöh hat von diesem Gottesnamen her die Trinität als Raum des innergöttlichen Zusammenwohnens neu gedeutet. Im Bestseller-Roman «Die Hütte» von William Paul Young ist das auf theologisch faszinierende und emotional berührende Art literarisch gestaltet.1

Ich möchte an dieser Stelle aber einer anderen Spur folgen. Die Synagoge in Kafarnaum ist nach dem Johannesevangelium nämlich der Ort, wo Gott in der Gestalt der Weisheit gegenwärtig ist. Das zeigen zwei alttestamentliche Texte, auf die Jesus in seiner Rede Bezug nimmt, wenn er sich als Brot des Lebens bezeichnet und zum Essen und Trinken einlädt: Sprüche 9,1–6 und Sirach 24,19–22. In Spr 9 lädt die Weisheit, die ihr Haus gebaut, das Mahl vorbereitet und die Mägde nach Gästen ausgesandt hat, ebenfalls ein: «Kommt, esst von meinem Mahl, und trinkt vom Wein, den ich mischte.» Das Zusammensein mit der gastfreundlichen Weisheit und ihren Gästen verändert die Unerfahrenen, die Unwissenden und die Törichten. Es eröffnet den Weg der Einsicht. Das Haus der Weisheit ist ein Lebens-, Lehr- und Lernhaus. Die Synagoge von Kafarnaum ist ein solches Haus der Weisheit.

Das Haus der göttlichen Weisheit kann überall auf der Welt stehen. Es ist aber an einem Ort besonders verwurzelt. Das macht die Weisheit in ihrer Rede im Buch Jesus Sirach deutlich: «Ich ging aus dem Mund des Höchsten hervor (…). Ich wohnte in den Höhen (…). (…) über alle Völker und Nationen hatte ich Macht (…). Gott sprach: In Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben (…). Ich fasste Wurzeln bei einem ruhmreichen Volk, im Eigentum des Herrn, in seinem Erbbesitz» (Sir 24,3–12). Die universale göttliche Weisheit wurzelt besonders im Volk Israel. Von hier aus entfaltet sie auf ganz besondere Weise ihre Fruchtbarkeit. Die Rede der Weisheit in Sir 24 findet dafür Bilder, mit denen sie gleichsam das Land, in dem sie wurzelt, durchwandert, das Bild der Libanonzeder, des wilden Ölbaums auf dem Hermongebirge, der Palme in En-Gedi, des Oleanders in Jericho und schliesslich auch das des Weinstocks (24,13–17), das Jesus im Johannesevangelium in seiner Abschiedsrede (Joh 15) aufnimmt.

Wo die Weisheit (griechisch: Sophia) noch sagt: «Wer mich geniesst, den hungert noch, wer mich trinkt, den dürstet noch. [Doch] wer auf mich hört, wird nicht zuschanden» (Sir 24,21f.), sagt Jesus Sophia: «Wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern; und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.» Jesus in der Synagoge von Kafarnaum ist die Weisheit von Sirach 24 in höchster Fülle. Die Weisheit in Sirach 24 identifiziert sich selbst und ihre Verwurzelung im Volk Israel mit der Tora: «Dies alles ist das Bundesbuch des höchsten Gottes, das Gesetz, das Mose uns vorschrieb als Erbe für die Gemeinde Jakobs» (24,23). So erscheint Jesus im Lehr- und Lernhaus der Synagoge auch als Erfüllung der Tora und zugleich als Lehrer der Tora, der alle Menschen zu Schülerinnen und Schülern der Tora macht: «Bei den Propheten heisst es: Und alle werden Schüler Gottes sein. Jeder, der auf den Vater hört und seine Lehre annimmt, wird zu mir kommen» (Joh 6,45).

Mit Johannes im Gespräch

In die «Brotwochen» der Leseordnung bringt Johannes heute die besondere Bedeutung Israels und seiner Tora als Lebensmittel für die Kirche ein.

Und er bringt die besondere Bedeutung eines Lehr- und Lernortes für die Gottesbeziehung ein. Ort der Gegenwart Gottes ist die Erfahrung und die Deutung dieser Erfahrung im Licht der überlieferten Geschichte(n) und in Auseinandersetzung, auch streitlustiger Auseinandersetzung, mit anderen. Kirche entsteht im Gespräch über Glaubenserfahrungen.