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Schlaraffenland am Gennesaret   

Hans Rapp zum Evangelium am 17. Sonntag im Jahreskreis (29.07.): Joh 6,1–15, SKZ 28-29/2012

 

Die Brotvermehrung ist vielleicht eine der bekanntesten Erzählungen des Neuen Testaments. Alle vier Evangelisten erzählen sie. Dass die Erzählung auch für die frühen Christen sehr beeindruckend war, beweist die byzantinische Kirche über dem vermuteten Ort der Brotvermehrung in Tabgha am See Gennesaret, deren reiche Mosaiken im 19. Jahrhundert entdeckt worden sind. Neben den fünf Broten und zwei Fischen bilden sie eine reichhaltige Flora und Fauna ab. Dicke Enten sitzen in riesigen Blumenkelchen. Die Erzählung wurde vielleicht von den Erbauerinnen und Erbauern der Kirche als Vorblick auf paradiesische Zustände überbordender Fruchtbarkeit gedeutet. Ein Nilometer – ein Turm, der den Pegelstand des Nils angab – deutet darauf hin, dass die üppige Nillandschaft das Vorbild dafür abgab. Tatsächlich ist das Bild vom nie ausgehenden Essen etwas, das die Phantasie der Menschen seit je anregte. In der deutschsprachigen Kultur hat es einen Namen: Schlaraffenland. Vielleicht hat sich das in den wohlstandsverwöhnten Ländern des Nordens geändert, wo das Übermass der Nahrung eine Bedrohung geworden ist. Wenn der Evangelist Johannes auf diese Erzählung und die Erzählung vom Gang Jesu auf dem Wasser die Brotrede folgen lässt, dann gibt er zu verstehen, dass Jesus, der Sohn Gottes, selbst diese Überfülle ist: «Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben» (Joh 6,35).

«… wie es in den Schriften geschrieben steht»

Liest man die Erzählung von der Brotvermehrung im Johannesevangelium etwas genauer, macht man einige interessante Entdeckungen. Vermutlich kannte Johannes die Version im Markusevangelium, an deren Verlauf er sich im Grossen und Ganzen hält. Vergleicht man die beiden Texte, wird deutlich, dass Johannes seine Erzählung durchaus eigenständig verarbeitet. Er baut gegenüber Markus die Tiefendimension der Erzählung auf das Erste Testament hin aus. Anders als die synoptischen Evangelien lässt er die Erzählung nahe dem Pessachfest spielen (Joh 6,4). Während bei Markus, Matthäus und Lukas die Jünger auf Jesus zukommen und ihn fragen, ob man die vielen Leute, die ihnen in die Einöde gefolgt sind, Brote kaufen schicken sollte, lässt Johannes Jesus selbst diese Frage stellen. Dies tut er hier allerdings nur, um die Jünger auf die Probe zu stellen (Joh 6,6). Das ist typisch für den johanneischen Jesus, der sein Schicksal von Anfang an kannte. Andreas weist auf den Buben hin, der fünf Gerstenbrote und zwei Fische dabei hat (Joh 6,9). Von diesem Buben wissen die anderen Evangelisten nichts. Jesus spricht das Dankgebet über die Brote und Fische und teilt sie an die 5000 Männer aus. Alle essen sich satt, und dennoch bleiben zwölf Körbe Gerstenbrote übrig (Joh 6,13). Die Leute sehen dieses «Zeichen» und sagen: «Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll» (Joh 6,14). Jesus sieht in dieser Begeisterung allerdings mehr. Er befürchtet, dass sie ihn ergreifen und zum König machen wollen. Deshalb zieht er sich wieder auf dem Berg zurück (Joh 6,15).

         Den antiken Leserinnen und Lesern dürfte wohl bereits bei der Fassung von Markus deutlich geworden sein, dass die Erzählung von der Brotvermehrung ein Vorbild im Ersten Testament hatte. Es ist die Brotvermehrung des Propheten Elischa
 (2 Kön 2,4,42–44). Diese Bibelstelle bildet in der Leseordnung den Lesungstext zu diesem Sonntag. Johannes streicht diese Parallele in seinem Text noch viel deutlicher heraus als die Synoptiker. Während Markus nur von fünf Broten spricht, erwähnt Johannes zwei Mal, dass es sich um «Gerstenbrote» handelt (Joh 6,9.13). Dies entspricht der Elischa-Erzählung: «Einmal kam ein Mann von Baal-Schalischa und brachte dem Gottesmann Brot von Erstlingsfrüchten, zwanzig Gerstenbrote, und frische Körner in einem Beutel. Elischa befahl seinem Diener: Gib es den Leuten zu essen!» (2 Kön 4,42).

         Der Prophet Elischa weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit Jesus auf. Wie einst Mose bewirkt er, dass eine Quelle mit krankmachendem Wasser trinkbar wird (2 Kön 2,19–22), er vermehrt für eine arme Witwe das Öl in einem Ölgefäss, damit sie es verkaufen und ihre Schulden abzahlen kann (2 Kön 4,1–7), er erweckt Tote (2 Kön 4,32–37). Die Elischa-Erzählung von der Brotvermehrung ist eine Erzählung über ein Gotteswort an Elischa: «Doch dieser sagte: Wie soll ich das hundert Männern vorsetzen? Elischa aber sagte: Gib es den Leuten zu essen! Denn so spricht der Herr: Man wird essen und noch übriglassen. Nun setzte er es ihnen vor; und sie assen und liessen noch übrig, wie der Herr gesagt hatte» (2 Kön 4,43 f.). Man wird essen und noch übriglassen. Dieses Gotteswort sollte sich bei Elischa und dann eben auch mit Jesus erfüllen.

Im Gespräch mit Johannes

Eine Kleinigkeit an dieser Erzählung irritiert allerdings. Der Mann bringt dem Propheten Elischa «Brot von den Erstlingsfrüchten». Die Erstlingsfrüchte sind für die biblische Tradition nicht einfach zum Essen bestimmt, sondern für Gott selbst: «Von den Erstlingsfrüchten deines Ackers sollst du die besten in das Haus des Herrn, deines Gottes, bringen» (Ex 23,19 vgl. auch Ex 34,26). Mit dem «Haus» ist der Tempel in Jerusalem gemeint. Wie kann ein Mann dem Propheten Brot aus den Erstlingsfrüchten anbieten? Tatsächlich wird diese Frage in der biblischen Erzählung nicht beantwortet. Rabbinische Gelehrte haben sich im Traktat Ketuvot des babylonischen Talmuds (bKet 105b) diese Frage gestellt und beantwortet: «Aber war es Elischa erlaubt, Erstlingsfrüchte zu essen? Die Absicht war es, dir zu sagen, dass derjenige, der einem Gelehrten ein Geschenk bringt, eine ebenso gute Tat wirkt, wie wenn er Erstlingsfrüchte dargebracht hätte.» Könnte diese Frage für die johanneische Erzählung eine Bedeutung haben? War sich Johannes mit seiner deutlichen Anspielung auf die Elischaerzählung bewusst, dass im Falle Jesu die Gerstenbrote auch als Erstlingsfrüchte durchaus am richtigen Ort gewesen wären? Denn der Ort, wo Jesus ist, ist der Ort Gottes – ein neuer Tempel Gottes, zu dem die Erstlingsfrüchte gebracht werden können. Und wenn die Brote sich vermehren, kommen sie dem Volk in der Einöde zugute, das bei Jesus Heilung sucht. Der Ort Gottes ist ein Ort der Überfülle. Es ist eindrücklich, wie sorgsam der Evangelist seine Botschaft vom Sohn Gottes, vom Wort Gottes, das in die Welt gekommen ist, aus dem Ersten Testament heraus entwickelt. Die byzantinischen Baumeister in Tabgha haben die fruchtbare Nillandschaft als Bild für die Überfülle des Lebens gewählt, auf die die Erzählung von der Brotvermehrung hinweist. Für unsere Konsumwelt hätte das Johannesevangelium wahrscheinlich die richtige Botschaft. Wahrer Reichtum liegt nicht in den Überschüssen, sondern in der Überfülle. Für den Evangelisten ist Jesus selbst diese Überfülle: Das Schlaraffenland besteht für ihn darin, die Welt radikal von Jesus her zu sehen.