Wir beraten

Die Aufgabe der Zwölf   

Katharina Schmocker Steiner zum Evangelium am 15. Sonntag im Jahreskreis (15.07.): Mk 6,7–13, SKZ

 

Es ist eine echte Herausforderung, zu einem Text Predigtimpulse zu geben, der einer Randnotiz ohne hervorstechende theologische Implikation gleicht. Und es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Fragen ein kurzer, oft gelesener und glatt lesbarer Text bei genauerer Betrachtung aufwerfen kann. Da diese Fragen text- und situationsbezogen sind, bleibt für einmal die Frage «Was in den Schriften steht» unbeantwortet. Wo denn auch sonst tritt ein Mann Gottes nicht als «Alleinunterhalter» auf und sammelt seine Schüler nicht nur um sich, sondern schickt sie noch während seiner eigenen Wirkungszeit aus?

Mit Markus im Gespräch

Jesus muss mit einer Enttäuschung fertigwerden. Ausgerechnet in seiner Vaterstadt, zu Hause trifft er auf grosse Skepsis seiner Lehre gegenüber. Er mag ernüchtert und frustriert gewesen sein, auch wenn der Evangelist milde formuliert: «Er staunte wegen ihres Unglaubens» (Mk 6,6a). Wollte er mit dieser Erfahrung erst einmal allein fertig werden? Schickte er seine Getreuen, die engsten Vertrauten, die Zwölf deshalb im Anschluss an diese Erfahrung weg? Oder will er, dass sie Abstand zu ihm gewinnen, dass nicht auch sie so vertraut mit seiner Person werden, dass sie früher oder später seine Wirkungsmöglichkeiten gerade durch diese Nähe ebenfalls einschränken, wie kürzlich seine Familie, seine Verwandten?

Bevor er die Zwölf zu sich ruft und sie auszuschicken beginnt, heisst es: «Er durchzog die Dörfer im Umkreis lehrend» (Mk 6,6b). Wohin also schickt er die Zwölf? Sendet er sie als Vorhut in die Dörfer, in die er anschliessend selber kommen will? Sollen sie das Terrain vorbereiten, um eine ähnliche Schlappe wie in seiner Vaterstadt vorweg abzuwenden? Oder schickt er sie im Gegenteil in Gebiete, von denen er annimmt, dass er selbst nicht hinkommen wird? Die Zwölf gelten in unserer Interpretation symbolisch als Vertreter der zwölf Stämme Israels. Schickt Jesus sie also als Multiplikatoren aus, um mit seiner Botschaft ganz Israel zu erreichen? Warum aber schickt er sie dann je zu zweit aus? Propheten und Boten treten doch in der Regel alleine auf, allenfalls begleitet von Schülerinnen und Schülern. Zwei (gleichberechtigte) Personen braucht es, um Zeugnis abzulegen. Die Zwölf sollen also offenbar nicht selber eine Botschaft verkünden, sondern lediglich bezeugen, dass die Botschaft Jesu wahr ist. Irritierender Weise steht das Wort für bezeugen (martyrein) im vorliegenden Textabschnitt aber ausgerechnet im Zusammenhang damit, dass die Gesandten an einem Ort nicht aufgenommen werden. Dann sollen sie den Staub abschütteln «ihnen zum Zeugnis» (Mk 6,11). Die Referenzstellen, die mindestens zwei Personen für ein gültiges Zeugnis fordern, tun dies allerdings ebenfalls im Hinblick auf ein Urteil: «Wenn es um Leben oder Tod eines Angeklagten geht, darf er nur auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen hin zum Tod verurteilt werden. Auf die Aussage eines einzigen Zeugen hin darf er nicht zum Tod verurteilt werden» (Dtn 17,6). «Wenn es um ein Verbrechen oder ein Vergehen geht, darf ein einzelner Belastungszeuge nicht Recht bekommen, welches Vergehen auch immer der Angeklagte begangen hat. Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen» (Dtn 19,15). Es scheint, dass es nicht Aufgabe der Zwölf ist, für Jesus und sein doch offensichtlich heilsames Wirken Zeugnis abzulegen, sondern gegenüber Jesus bzw. im Hinblick auf das Endgericht für die Orte, an denen sie eingekehrt sind bzw. einkehren wollten.

Tatsächlich erhalten sie von Jesus keinen Sendungs- oder Verkündigungsauftrag, sondern lediglich die Anweisung, nichts weiter als Sandalen an den Füssen und einen Stab mit sich zu tragen, keinen Reisesack, kein Brot, keine Münzen im Gürtel, kein zweites Gewand. Der Text verrät weder, wo die Reise der sechs Zeugenpaare hingeht, noch, wie lange sie dauern wird. Natürlich kann aus den Anweisungen die Aufforderung zur freiwilligen Armut und zu uneingeschränktem Gottvertrauen abgeleitet werden. Aus den bisherigen Beobachtungen liegt jedoch der Schluss ebenso nahe, dass die minimale Ausstattung der Gesandten dazu dient, die Orte, zu denen sie kommen, zu prüfen hinsichtlich ihrer Gastfreundschaft und ihrer Sensibilität, die jeweils Zwei als Zeugen für die Zuwendung Gottes an die Welt zu erkennen. Nichts anderes ist die Botschaft Jesu, und das Markusevangelium richtet sich nicht an die Völker, für die sie neu ist, sondern an Israel, das Volk, für welches die Botschaft Jesu in der Tradition seiner Schriften und Propheten steht und daher wiedererkannt werden müsste. Sollte das Erscheinen der jeweils Zwei die Orte auch an die Situation von Sodom erinnern, an die zwei Boten, die Ausschau hielten nach den zehn Gerechten, die für die ganze Stadt die Rettung bedeutet hätten? Für diese Interpretation spricht auch, dass die Zwölf nicht von Haus zu Haus gehen sollen, um Essen und Unterkunft für jeweils eine Nacht zu bekommen, sondern wenn sie in ein Haus gingen, sollten sie dort bleiben, bis sie den Ort wieder verliessen. Ein aufnahmebereites Haus genügt, um den ganzen Ort zu segnen, denn auch ohne direkten Auftrag heilten die Zwölf Kranke und «warfen Dämonen hinaus» (Mk 6,13). Und genau davon berichten sie Jesus, als sie zurückkommen (Mk 6,30). Widerspricht dieser Hinweis der Deutung, dass sie nicht in erster Linie Boten für Gottes Gerechtigkeit, sondern Zeugen für die Gerechten oder Ungerechten sind? Oder kennzeichnet diese Mischung lediglich die Situation, in welcher die direkten Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu stehen, zwischen endzeitlicher Naherwartung und der Notwendigkeit, sich noch ein wenig zu gedulden und daher die eigene Aufgabe neu zu überdenken und sinngebend zu gestalten?

Die Einbettung zwischen den Vorspann in Mk 3,14 f.: «Und er setzte die Zwölf ein, die er bei sich haben und später aussenden wollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben» und den genannten Abspann in Mk 6,30: «Die Apostel versammelten sich wieder bei Jesus und erzählten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten» prädestiniert den vorliegenden Text als Hinweis für die Aufgabe der Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu. Für sich allein genommen als zeitgleiches Geschehen zu Jesu Auftreten erinnert und wiederholt der Text das heilsgeschichtliche Eingreifen Gottes durch die Hinweise auf die Vollmacht über unreine Geister, die Heilungen, den typisch prophetischen Aufruf zur Umkehr (Mk 6,12), die Symbolik der Zwölf und der jeweils zu zweit an einen Ort kommenden Boten. Jesus selbst mag dabei implizit für Abraham stehen, der Gott auf zehn Gerechte «herunterhandelt» (Gen 18,23–33) oder für den dritten «Gast» Abrahams, der für den Herrn selbst steht.

Da wir aus dem Evangelium gerne auch einen Bezug zur Gegenwart herstellen möchten, aber weder in der unmittelbaren eschatologischen Naherwartung noch vor der Notwendigkeit einer Nachfolgeregelung wie die zweite und dritte Generation stehen, wäre es vielleicht nicht falsch, die markinischen Hinweise auf die Heilsgeschichte aufzugreifen. Angesichts dessen, dass die Schriften und Propheten dank Buchdruck und Übersetzungen weltweit bekannt sind, ist es möglicherweise nun wieder die Aufgabe derjenigen, die sich in den Dienst Gottes stellen, den Gemeinden Gelegenheit zu geben, sich als Gerechte zu erweisen. Keine und keiner sollte dies im Alleingang tun, denn wie schnell ist ein schlechter Eindruck entstanden – vielleicht durch rein persönliche Sym- oder Antipathie, unterlaufen Missverständnisse, die zu einem falschen Urteil führen könnten.