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Familienkrach   

Hanspeter Ernst zum Evangelium am 14. Sonntag im Jahreskreis: Mk 6,1–6, SKZ 25/2012

 

«Nirgends gilt ein Prophet so wenig wie in seiner Vaterstadt» (Mk 6,4) gehört heute zu den geflügelten Worten. Sie werden vor allem dann zitiert, wenn ein Mensch da, wo er am besten bekannt ist, mit seinen Ansichten auf Ablehnung stösst und keinen Erfolg hat. Irgendwie können diese Worte die Ablehnung erklären, ohne dass genau gesagt werden könnte, weshalb das so ist. Liegt es etwa daran, dass bei Personen, die einem schon lange bekannt sind und mit denen man vielleicht gar aufgewachsen ist, am ehesten Vorurteile aufkommen: «Ist ja klar, wenn du seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister oder die Verwandtschaft kennst!» Oder liegt es daran, dass man sich von den Eigenen nicht gerne den Spiegel vorhalten lässt? Oder … Umgekehrt bieten die Worte so etwas wie einen Trost: Auswärts hat die Person Erfolg. Desaströs ist es nur zu Hause, bei den Eigenen, nicht aber «in der Fremde».

Stark vereinfachend und holzschnittartig liesse sich Mk 6,1–6 zusammenfassen: Jesus kommt in seine Vaterstadt. Hier geht er am Schabbat in die Synagoge und lehrt. Alle sind beeindruckt und fragen: Woher hat er diese Weisheit, woher die Kraft, durch seine Hände zu heilen? Dieser Jesus ist doch nur der Sohn der Maria, wir kennen seine Brüder und Schwestern. Sie lehnen ihn ab. Deshalb kann Jesus keine Wunder tun, ausser einige Kranke durch Handauflegung heilen. Und das ist so, weil ein Prophet in seiner Vaterstadt nichts gilt. Guter Stoff für eine Predigt!

Mit Markus im Gespräch

Aber so einfach ist es nicht, da der Text auf sehr unterschiedliche Arten gelesen werden kann. Seine Aussage ist eine andere, wenn sich die Lektüre leiten lässt von der unausgesprochenen Voraussetzung, dass die Frage des «Woher hat er diese Weisheit?» eine Frage nach der Messianität Jesu ist. Dafür kann einiges im Text selbst sprechen: Es sind die Machttaten, die Jesus wirkt. Er lehrt die Tora, was eine genuine Aufgabe des Messias ist. Aber gegen seine Messianität spricht die Bekanntheit seiner Herkunft, da die messianische Gestalt nach einer bestimmten jüdischen Auffassung bis zum Ende verborgen bleibt. Jesus ist der Sohn der Maria und hat namentlich bekannte Brüder und nicht beim Namen genannte Schwestern. Soll hier also der «Beweis» geliefert werden, dass Jesus, der in seiner Vaterstadt als Messias nicht erkannt wurde, eben doch der Messias ist, auch wenn man um seine Herkunft weiss? Das ist möglich.

Es ist aber auch möglich, den Text anders zu lesen. Vers 4 lautet: «Und Jesus sagt zu ihnen: Nirgends gilt ein Prophet so wenig wie in seiner Vaterstadt und bei seinen Verwandten und in seiner Familie.» Hier ist nicht die Bekanntheit der Abstammung Jesu ein Hindernis, sondern umgekehrt, die Familie ist das Hindernis für Jesu Wirken. Gerade jene, die ihm aufgrund seiner Herkunft besonders nahestehen, verhindern sein Wirken, das im Übrigen gar nicht so erfolglos ist: «Viele, die ihm zuhörten, waren überwältigt» – und das müssen nicht die Jünger gewesen sein. Von diesen heisst es, dass sie Jesus folgen (6,1), aber ausgerechnet einige dieser Jünger werden namentlich als Brüder Jesu genannt, gehören also zu der Familie, in der der Prophet nach den Worten Jesu nichts gilt. Die Frage ist, weshalb die vielen Menschen, die überwältigt (das griechische Wort ekplessomai kann auch staunen, erschrecken, ausser sich geraten, entsetzen bedeuten) waren von der Lehre Jesu und die nach der Herkunft seiner Weisheit fragen und über seine Wunder staunen, weshalb diese an Jesus Anstoss nehmen, nachdem seine Herkunftsverhältnisse bekannt gemacht wurden? Ein möglicher Hinweis zur Beantwortung der Frage könnte vielleicht gerade in der ersten Reaktion der Vielen auf die Lehre Jesu liegen: Sie fragen: «Woher hat ‹dieser da› das? (pothen touto tauta)» und «Was ist das für eine Weisheit, die ‹dem da› gegeben ist?» (Mk 6,2). «Dieser da» kann abschätzig gelesen werden, etwa in dem Sinne: «Dieser ‹der da›, was hat er schon für eine Ahnung …» Diese Lesart trifft wohl kaum zu, weil die Fragenden gleich weiterfahren «und solche Machttaten, die durch seine Hände geschehen». Vom erzählerischen Rahmen her wird damit Bezug genommen auf die früheren Machttaten Jesu, bei denen Jesus seine Hände gebraucht, vor allem aber auf die unmittelbar unserer Perikope vorausgehende Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus (und Jesus nimmt die Hand des Kindes, Mk 5,41). Zwar lösen diese Machttaten verschiedene Reaktionen aus. Der Grundtenor ist, dass sie beim Volk Anklang finden. Deshalb hat das betonte «dieser da» positive Bedeutung. Implizit ist damit auch die Frage beantwortet, dass «der da» die Weisheit von Gott hat. Wenn aber die Weisheit von Gott ist, dann ist der Hinweis auf seine Familie anders zu lesen: Die biologische Verwandtschaft ist nicht Grund für die Weisheit Jesu. Und umgekehrt: Wenn die Familie der Ansicht ist, dass sie aufgrund ihrer «natürlichen Nähe» zu Jesus für sich eine besondere Autorität beanspruchen kann, irrt sie sich. Wer Jesus so in Besitz nimmt, macht es diesem unmöglich, dass er wirken kann. Die «institutionalisierte Nähe» ist alles andere als ein Garant dafür, zur Familie Jesu zu gehören. Für diese gilt: «Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder, Schwester und Mutter» (Mk 3,35). Versteht sich auch, dass eine solche Rede skandalträchtig ist – vor allem für die Familie.

Es mag sein, dass dieser Gedanke befremdlich ist. Er findet aber im Markusevangelium selbst guten Rückhalt: Bei Markus ist das von den Jüngern und der Familie Jesu gezeichnete Bild ein durchzogenes und ziemlich negatives, während die Menge mindestens im ersten Teil des Evangeliums durchaus positiv in ihrem Verhältnis zu Jesus dargestellt ist. Auch die Polarität von Fremde und Heimat, aussen und innen – Jesus kommt von aussen und geht in seine Vaterstadt – unterstützt diese Aussage, die besonders fruchtbar gemacht werden kann, wenn sie auf dem Hintergrund einer Geschichte der Hebräischen Bibel gelesen wird.

Was in den Schriften geschrieben steht

«Und der Ewige sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. (…) und du wirst ein Segen sein» (Gen 12,1 f.). Ein neuer Anfang wird gemacht. Dieser Anfang beginnt mit dem Auftrag, all das zu verlassen, was Sicherheit bieten könnte, das Vaterland, die Verwandten und die Familie. Abram geht im Vertrauen auf die Verheissung Gottes. Unsere Perikope beginnt mit demselben Wort: Fortgehen. Aber dieses Fortgehen hat ein anderes Ziel. Jesus gerät in den Bannkreis seiner Familie – und er kann nicht mehr wirken. Vaterland, Mutter, Geschwister, Verwandtschaft, all diese familiären Bande werden zum Hindernis, wenn sie nicht hinter sich gelassen werden, da das Tun des Willens Gottes das einzige Kriterium der Zugehörigkeit zur Familie Jesu ist. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass im Anschluss an unsere Perikope der Aussendungsbericht kommt. Und es dürfte auch kein Widerspruch sein, dass unter den Zwölfen seine Brüder sind. Sie, vor allem Jakobus und Simon, sorgen nach dem Tode Jesu durchaus für Machtkämpfe. Verständlich, dass sie bei solchen Kämpfen wohl auch von ihrer besonderen familiären Nähe zu Jesus Gebrauch zu machen suchten. Markus wehrt sich gegen diese Vereinnahmung. Und erteilt auch uns eine Lektion: Die Nähe zu Jesus zeigt sich im Tun des Willens Gottes – und nicht in der intimen familiären oder in der institutionell garantierten Nähe.