Wir beraten

«Sei ohne Furcht, glaube nur!»   

Franz Annen zum Evangelium am 13. Sonntag im Jahreskreis (01.07.2012): Mk 5,21–43

 

Die Sonntagsperikope umfasst zwei ineinander gefügte Wundergeschichten: die Heilung einer Frau mit Blutungen und die Auferweckung der Tochter des Jairus. Der Evangelist verbindet sie so eng, weil sie für ihn in ihrer Aussage zusammengehören.

«Was in den Schriften geschrieben steht»

In der Erzählung von der Frau mit den Blutungen spielt im Hintergrund die Reinheitsproblematik eine wichtige Rolle. Lev 15,19–33 bestimmt, dass Frauen durch die Monatsblutung sieben Tage lang unrein werden. Jeder Mensch und jeder Gegenstand, der mit ihnen in Berührung kommt, wird ebenfalls unrein. Die Zeit ihrer Regel bedeutet für die Frauen also gesellschaftliche und kultische Isolation. Das gilt auch für Blutungen ausserhalb der Monatsregel. Dass das nicht nur in der Bibel steht, sondern auch im Judentum des 1. Jahrhunderts Geltung hatte, bezeugt Josephus Flavius (Contra Apionem 2.8): Allen (auch Fremden!) war es erlaubt, den äusseren Tempelhof zu betreten, nur Frauen während ihrer Unreinheit nicht. Die Frau im Gleichnis lebt also wegen ihrer Krankheit seit zwölf Jahren (Mk 5,25) am Rande der Gesellschaft. Und es gehört schon ein grosses Stück Mut (oder Verzweiflung?) dazu, wenn sie alle Vorschriften verletzt, indem sie sich ins Gedränge begibt und Jesu Kleider berührt. Gerade diese Berührung wird ihr aber zum Heil.

Für die Auferweckung der Tochter des Jairus ist im Auge zu behalten, dass für die Bibel Gott selbst der Herr über Leben und Tod ist (vgl. Gen 9,5–6). Nur er kann Leben schenken (vgl. z. B. Ps 68,21). Allerdings spricht das AT auch von Gottesmännern, die im Namen Gottes und in seiner Kraft Tote zum Leben erwecken: die Propheten Elija (1 Kön 17,17–24) und Elischa (2 Kön 4,32–37).

Die beiden Wunder, die Markus von Jesus erzählt, tragen also deutlich alttestamentlich-jüdische Farben. Der Evangelist gestaltet sie so, dass sie einerseits die Lebensmacht Jesu hervorheben und andererseits zu Geschichten des Glaubens werden.

           1.) Die heilende Macht Jesu ist der Grund, warum sich Jairus voll Vertrauen Jesus zu Füssen wirft und um Hilfe für seine sterbende Tochter bittet. Unterwegs zu seinem Haus folgen Jesus viele Menschen und drängen sich um ihn. Markus hatte schon früher berichtet, dass Jesus viele heilte, «so dass alle, die ein Leiden hatten, sich an ihn herandrängten, um ihn zu berühren» (3,10). Man glaubte offenbar, dass er mit heilender Kraft so «geladen» war, dass es genügte, ihn zu berühren, um geheilt zu werden, eine Vorstellung, die in der Antike weit verbreitet war1. Diesen Glauben teilt auch die Frau, die seit zwölf Jahren an Blutungen litt, von denen sie alle Kunst der Ärzte nicht heilen konnte. Aber wie sie nun Jesus heimlich berührt, hören ihre Blutungen sofort auf. Die Kraft, die von ihm ausgeht, wird so real vorgestellt, dass er es spürt. Uns mag diese Vorstellung magisch vorkommen; wer aber das Evangelium bis hierher gelesen hat, weiss, dass die Kraft Jesu die göttliche Macht des Geistes ist, die ihn seit seiner Taufe erfüllt (Mk 1,10–12; noch ausdrücklicher Lk 4,1.14.18).

Noch eindrücklicher kommt die Macht Jesu in der folgenden Auferweckungsgeschichte zum Ausdruck. Weil das Mädchen inzwischen gestorben ist, halten die Hausgenossen des Jairus es für unnütz, Jesus weiter zu bemühen. Krankenheilung trauen sie ihm offenbar zu, die Erweckung einer Toten aber nicht. Und wie Jesus den Tod des Mädchens als Schlaf bezeichnet, lachen sie ihn sogar aus. Jesus aber nimmt das Mädchen an der Hand und sagt ganz schlicht: Talita kum – Mädchen, steh auf. «Mütter wecken in dieser Weise ihre schlafenden Kinder.»2 Im Vergleich zu dieser machtvollen Selbstverständlichkeit wirken die Totenerweckungen von Elija und Elischa doch sehr umständlich und aufwendig und sind an das flehentliche Gebet zu Gott gebunden. In Jesus spricht der Herr über Leben und Tod selber sein Machtwort.

           2.) Markus gestaltet die beiden Wundererzählungen aber auch als Glaubensgeschichten. Die Frau mit den Blutungen vertraut nach allen erfolglosen Versuchen mit Ärzten, die ihr ganzes Vermögen gekostet haben, auf die Wundermacht Jesu, freilich in einer Weise, die uns eher als Aberglauben vorkommt. Aber: «Was wir als Aberglauben ansähen, wird von Jesus ‹Glaube› genannt.»3 Durch das persönliche Gespräch mit ihm wird deutlich, dass in ihrem Vertrauen auf die Wundermacht Jesu echter Glaube steckte, der ihr geholfen hat, mag er noch so anfanghaft und unvollkommen gewesen sein.

Einen mehrstufigen Prozess macht auch der Glaube des Jairus mit. Bei seiner anfänglichen Bitte an Jesus mag auch bei ihm der berühmte Wundermann Jesus die letzte, verzweifelte Hoffnung für seine sterbende Tochter gewesen sein. Wie die Nachricht vom Tod des Kindes eintrifft, redet ihm Jesus zu: «Sei ohne Furcht, glaube nur!» Und offensichtlich reagiert der Synagogenvorsteher anders als die Leute aus seinem Haus, die ein Eingreifen Jesu nun für unnütz halten, und die Trauergäste, die ihn sogar auslachen. Jairus bleibt bei Jesus und erlebt zusammen mit den drei auserwählten Jüngern, dass er seiner Tochter tatsächlich das Leben wieder schenkt.

Mit Markus im Gespräch

«Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur» (5,39). Dieses Wort Jesu wurde manchmal als Hinweis darauf verstanden, dass die Tochter des Jairus in Wirklichkeit nur scheintot war. Doch lässt der Duktus der Erzählung diese Interpretation nicht zu. Die Wundergeschichte würde so zu einer Täuschungsgeschichte, die dem Evangelisten nicht zuzutrauen ist. Vielmehr weist das Jesuswort darauf hin, dass der Tod seine Endgültigkeit verliert und wie ein vorübergehender Schlaf wird, wo der Herr des Lebens sein Machtwort spricht (5,41): «Mädchen, ich sage dir, steh auf!»

«Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.» Das Wort drückt in einem prägnanten Bild die Sicht des Todes aus, die dem christlichen Glauben entspricht, der seine Mitte im Tod und in der Auferstehung Jesu hat und daran glaubt, dass seine Auferstehung auch uns gilt (vgl. Röm 6,3–5). Für die Hörer und Leser des Evangeliums damals und heute ist die Geschichte der Rückkehr des jungen Mädchens ins irdische Leben ein Zeichen des neuen Lebens, das uns im Tode geschenkt wird. Dabei geht es nicht «um die Wiederbelebung eines Leichnams und sein Zurückkehren in ein überhaupt nicht verändertes irdisches Leben», sondern vielmehr um das, «was die Bibel Auferstehung nennt, nämlich die Neuschöpfung Gottes zu einem Sein, das in einer völlig anderen, nicht vorstellbaren Weise Leben ist, weil es ja Sein in der Gemeinschaft Gottes ist».4

Und da liegt auch die Herausforderung der Erzählung an uns Christen heute: Ist unser Glaube an die Lebensmacht Gottes so stark, dass wir ihm alles zutrauen, auch diesen Sieg über den Tod, über unseren eigenen Tod? In der heutigen Denk- und Lebenswelt ist dieser Glaube ja alles andere als selbstverständlich. Viele – auch Menschen, die sich als Christen verstehen – können das nicht mehr glauben. Sie denken, dass der Tod das Ende von allem ist, oder nehmen ihre Zuflucht zum Glauben an eine Wiedergeburt (Reinkarnation) zu einem weiteren irdischen Leben. Dem neutestamentlichen Glauben entspricht das nicht. Die Geschichte von der Erweckung der Tochter des Jairus «fragt den Leser, ob er in seinem Sterben, wo vermutlich kein ‹Wunder› zu erleben ist, Gott den Sieg auch über seinen Tod zutraut».5 Auch für unseren eigenen Tod gilt das ermutigende Wort Jesu: «Sei ohne Furcht, glaube nur!»