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Nur alle können alles   

Peter Zürn zum Evangelium an Fronleichnam: Mk 14,12–16.22–26, SKZ 20/2012

 

Die Steyler Missionare schreiben auf ihrer Homepage1 über Fronleichnam. Sie bezeichnen Fronleichnam – nach dem Titel eines Buches von Guido Fuchs – als ein «Fest in Bewegung». «Wurde es früher in Abgrenzung von unseren evangelischen Mitchristen als ein im konfessionellen Sinne katholisches Fest gesehen» – schreiben sie – «so sind wir heute auf gutem Wege, Fronleichnam als ein im ursprünglichen Sinn des Wortes katholisches, allumfassendes Fest zu verstehen». Ich möchte der Frage nachgehen, was das Evangelium dieses Tages – im Gespräch mit dem Alten Testament und dem Judentum – dazu beitragen kann, dass das «katholischste aller Feste» in diesem Sinne noch katholischer wird? Dazu greife ich Gedanken auf, die ich bereits in einer früheren Auslegung zu den Lesungen an Fronleichnam entwickelt habe.2

«Was in den Schriften geschrieben steht»

Das Leitwort in Mk 14,12–16 ist Pascha. Viermal kommt es vor. Das Mahl Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern ist nach Markus ein Paschamahl. Damit erinnert und vergegenwärtigt es die Geschichte des Volkes Israel, den Exodus, die Befreiung aus Unterdrückung und Bedrängnis. Beschrieben ist das Paschamahl in Ex 12. Der Exodus führt dazu, dass sich das Volk Israel mit Gott verbindet, dass Gott und sein Volk einen Bund schliessen. Davon wird in Ex 24 erzählt. Auch diesen Bundesschluss erinnert und vergegenwärtigt Mk 14, und zwar in Vers 24, wo Jesus Ex 24,8 zitiert und sich ausdrücklich in diesen Bund hineinnimmt: «Dies ist mein Blut des Bundes.» So ist es sehr stimmig, dass die Leseordnung Ex 24,3–8 als Lesungstext mit Mk 14 ins Gespräch bringt. Der Bundesschluss wird in Ex 24,11 mit gemeinsamen Essen und Trinken abgeschlossen. Leider lässt die Leseordnung diesen Vers weg, der noch mehr dazu beitragen würde, das Mahl Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern so zu verstehen, dass damit der Bundesschluss am Sinai vergegenwärtigt und gefeiert wird.

Wie «Pascha» das Leitwort von Mk 14,12–16 ist, so ist kol, «alle/alles», das Leitwort von Ex 24,3–4. Fünfmal kommt es vor. Es geht nicht um einzelne Menschen und einzelne Worte des Bundes, hier verpflichtet sich das Volk als Gesamtheit zum Tun aller Worte. Symbolisch wird diese Gesamtheit des Volkes in den 12 Steinmalen für die 12 Stämme sichtbar (Ex 24,4). Jesus knüpft daran an, wenn er explizit mit den Zwölfen beim Paschamahl erscheint – ich lese: zu den anderen dazukommt (Mk 12,17).

Hier wird eine Besonderheit der jüdischen Gottesbeziehung deutlich, die Judith Plaskow so ausdrückt: «Israel zu verstehen, muss immer mit der Anerkennung anfangen, dass Israel eine Gemeinschaft ist, ein Volk, nicht eine Sammlung von Individuen (…). Vom Sinai an wird die jüdische Beziehung zu Gott durch diese Gemeinschaft vermittelt. Der Jude/die Jüdin steht nicht als Einzelne/r vor Gott, sondern als Mitglied eines Volkes.»3 Diesen Bund erinnern und vergegenwärtigen Jesus, die 12 und die anderen Jüngerinnen und Jünger in Mk 14.

In dieser besonderen jüdischen, in dieser sozialen Gottesbeziehung kommt etwas grundlegend Menschliches zum Ausdruck. Für Plaskow ist es die Einsicht, dass «Menschsein in der Gemeinschaft geformt, genährt und erhalten wird (…). Mensch zu sein bedeutet (…), sich von allem Anfang an in einer Gemeinschaft vorzufinden – oder, wie das in der heutigen Welt oft der Fall ist, in einer Vielzahl von Gemeinschaften. Sich als Mensch zu entfalten, bedeutet, ein Gefühl für sich selbst in Beziehung zu anderen zu erlangen und sich aus den gemeinschaftlichen Erbteilen verschiedenes kritisch anzueignen.»4

Die Gemeinschaft, die mein Menschsein und meine Gottesbeziehung formt, ist keine einförmige, keine einfältige, sondern eine vielfältige Gemeinschaft. Das gilt auch für die Gemeinschaft, die sich mit Gott verbindet. Meine Formung durch diese Gemeinschaft ist kein passives Geschehen, sondern eine aktive Auswahl und Aneignung. So verwirkliche ich mich als Bundespartnerin bzw. Bundespartner. Allerdings nach biblisch-jüdischem Verständnis nur als Teil von allen. Der Text von Ex 24 legt ja den Akzent darauf, dass alle im Volk sich auf alle Worte des Bundes verpflichten. Das, was ich mir aus dem Erbe kritisch aneigne, meine Auswahl, ist nicht alles. Es wird vervollständigt durch die Auswahl der anderen. Mit ihnen bin und bleibe ich verbunden, auch wenn sich unsere Aneignung des gemeinsamen Erbes unterscheidet. Der Bund ist der Raum dafür, mit allen in Beziehung zu bleiben, die sich auf das gleiche Erbe beziehen, gehen sie auch noch so verschiedene Wege. Die Bundesbeziehung ist ganz grundlegend eine Verbindung von Verschiedenen: als Beziehung zwischen Gott und Menschen und als Beziehung zwischen Menschen. Der Bund am Sinai bedeutet Verschiedenheit zu achten und dennoch in Beziehung zu gehen. Diese Beziehung schliesst Auseinandersetzung und Streit ein, nicht aus; nicht zwischen Gott und den Menschen und nicht zwischen Menschen. Der Streit bekommt aber eine andere Qualität, wenn er im Rahmen des Bundes geführt wird, zu dem alle gehören und der nur durch alle, die sich auf alle Worte verpflichten und sie tun, verwirklicht wird.

Mit Markus im Gespräch

Jesus erinnert und vergegenwärtigt diesen Bund im Paschamahl mit den Seinen. Er nimmt sich mit seinem Blut, d. h. mit seinem Leben, in diesen Bund mit hinein. Er spricht nach Markus mit Zitat aus Ex 24,8 vom Blut des Bundes, «das für viele vergossen wird». Das ist eine Ausweitung, keine Aufhebung des Sinaibundes. Jesus sprengt das Blut, das Mose in Ex 24 über das Volk Israel versprengt hat, gleichsam auf eine grössere Gemeinschaft, auch auf die vielen, auch auf die Menschen aus den Völkern, die Gojim oder «Heiden». Matthäus nimmt das auf, Lukas spricht seine Gemeinden aus Juden- und Heidenchristen direkt an: «für euch vergossen». Aber auch für den erweiterten Bund bleibt der alte Bund das Mass. Wir Christinnen und Christen sind «Bundesgenossen eines erneuerten Bundes, eines Bundes freilich, der sich messen lassen muss an diesem am Berg Sinai geschlossenen.»5

Auch im erneuerten Bund, auch im grösseren Bundesvolk sind «alle» gerufen, «all die Worte zu tun», die Gottes Weisung zum Leben sind. Alle sind gerufen, mit allen anderen, die sich auf das gemeinsame Erbe beziehen, in Beziehung zu bleiben und ihre Verschiedenheit zu achten. Nur alle zusammen können alle Worte tun und den Bund erfüllen.

Ich verstehe die Erinnerung an und die Vergegenwärtigung dieses Bundes als herausfordernde Einladung zum christlich-jüdischen und zum christlich-islamischen Dialog genauso wie zum innerchristlichen und innerkirchlichen Dialog. Diesen Bund gerade an Fronleichnam zu erinnern und zu vergegenwärtigen, ist von der Leseordnung herausfordernd gut gewählt. Auf dass dieses Fest mit seinem Mahl kein Zeichen der Abgrenzung, sondern zum Fest einer grossen Bewegung werde. Zu einem Auszug aus Begrenzungen und Einschränkungen, die Beziehung verhindern. Zu einer Einladung an die, die anders sind und die wir brauchen, um alle zu werden, die alle Worte tun wollen und können.