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Ein Ort der Mystik   

Hans Rapp zum Evangelium am Dreifaltigkeitssonntag: Mt 28,16–20, SKZ 20/2012

 

Der Anfang und der Schluss von Büchern hat es immer in sich. Meisterwerke werden vor allem an ihren Anfängen und Enden sichtbar. Oft ist es auch so, dass nur die Anfänge und die Schlüsse wirklich bekannt sind. Sollen die Anfänge von Büchern die Lesenden packen und mit der Handlung fortreissen, so ist es die Aufgabe eines Buchendes, die Lesenden wieder ins Leben und in die Zukunft zu entlassen. Der heutige Abschnitt aus dem Matthäusevangelium tut dies mit einem allumfassend formulierten Missions- und Verkündigungsauftrag an die Jüngerinnen und Jünger und einer Formel, aus der sich in den späteren Jahrhunderten das Bekenntnis der Kirche zur Dreifaltigkeit Gottes entwickeln sollte, deren Fest wir heute feiern.

Wie es in den Schriften geschrieben steht

Die Szene beginnt mit einem Rückverweis auf den Ostertag. Jesus hat den Jüngern aufgetragen, nach Galiläa zu gehen. Sie kommen dort zu dem «Berg, den Jesus ihnen genannt hatte» (Mt 28,16). Sie werfen sich vor ihm nieder (Mt 28,17). Der zweite Teil des Abschnittes besteht aus der Rede Jesu. Sie setzt sich aus drei Teilen zusammen. Auf eine Aussage über sich selbst in Mt 28,18 («Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde») folgt der Auftrag an die Jünger, alle Völker zu Jüngerinnen und Jüngern zu machen, zu taufen und zu unterweisen (Mt 28,19 f.). Sie sollen diese Taufe im Namen des Vater, des Sohnes und des heiligen Geistes spenden. Mit dieser Formulierung nimmt Matthäus etwas aus dem Anfang seines Evangeliums wieder auf, nämlich Jesu Taufe durch Johannes im Jordan: «Kaum war Jesus getauft und aus dem Wasser gestiegen, da öffnete sich der Himmel, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube auf sich herabkommen. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe» (Mt 4,16 f.). Jede Taufe ist so eine Erinnerung an die Taufe Jesu. Den Schluss bildet eine Zusage an die Jüngerinnen und Jünger, die auch den Abschluss des Evangeliums ausmacht: «Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt» (Mt 28,20). Diese Zusage gilt auch uns heute.

Ich möchte die Aufmerksamkeit auf zwei Details dieses Textes lenken. Ein irritierendes Element im Text ist der Verweis des Evangelisten auf einen Berg: «Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte» (Mt 28,16). Welchen Berg meinte Jesus damit? In keiner Szene der Passion oder der Erzählung vom leeren Grab nennt Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern einen Berg als Ort der Begegnung. Ist Matthäus da ein Fehler passiert? Oder ist dieser Berg nur eine kleine Nebensache? Berge spielten in der israelitischen und der jüdischen Tradition immer schon eine grosse Rolle. Da ist einerseits der Gottesberg am Sinai, auf dem Mose und mit ihm ganz Israel die Tora erhält (Ex 19,11). Auch der Jerusalemer Tempel stand auf einem Berg, dem Berg Morija (2 Chr 3,1). In frühjüdischer Zeit gibt es eine Reihe von Erzählungen über Visionen auf einem Berg in Galiläa. Ein Beispiel ist die jüdisch-hellenistische Schrift der Testamente der zwölf Patriarchen. Der Patriarch Levi wird im Traum auf einen Berg in Galiläa versetzt. Er hat auf diesem Berg eine Vision und wird von einem Engel Gottes durch die Himmel geführt. Dieser Engel offenbart Levi auch seine künftige Mission: «… du wirst nahe bei dem Herrn stehen und wirst sein Diener sein und wirst den Menschen seine Geheimnisse verkündigen, und über den, der Israel erlösen soll, wirst du Botschaft bringen. Und durch dich und Juda wird der Herr unter den Menschen erscheinen, rettend unter ihnen jegliches Geschlecht der Menschen. Und von dem Anteile des Herrn wirst du deinen Lebensunterhalt haben, und er selbst wird dein Acker, Weinstock, Früchte, Gold, Silber sein» (Testament Levi 2). Die Ähnlichkeit zum Abschluss des Matthäusevangeliums ist auffallend. Beide Erzählungen handeln von einer Sendung, einer Mission. In beiden Texte ist die gesamte Menschheit das Ziel der Sendung. Das Testament Levi schöpft aus den Quellen früher jüdischer Mystik und Apokalyptik. Ebenso offensichtlich Matthäus.

Ein zweites Element, das ich näher betrachten möchte, ist, dass sich die Jüngerinnen und Jünger vor Jesus niederwerfen. Das griechische Verb «niederwerfen» (proskyneô) wird für die Achtung verwendet, die gegenüber einem König zu erweisen ist (Mt 2,2.10). Es bezeichnet aber auch die Art, wie der Gott Israels verehrt werden soll (Mt 4,10). Das erste der zehn Gebote des Ersten Testaments bezieht sich genau darauf: «Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen» (Ex 20,5; Dtn 5,9). Das Sichniederwerfen ist eine sehr starke religiöse Geste, die eine absolute Unterwerfung und Verehrung bezeichnet. Immer wieder werfen sich Menschen vor Jesus nieder. Ein Aussätziger wirft sich vor Jesus nieder und bittet ihn um Heilung (Mt 8,2). Ein Synagogenvorsteher wirft sich ebenfalls vor Jesus nieder und bittet ihn, seine tote Tochter wieder lebendig zu machen (Mt 9,18). Im Matthäusevangelium schliesst sich mit dem Niederwerfen der Jünger ein Kreis. Im zweiten Kapitel kommen die Weisen aus dem Osten nach Palästina, um sich vor dem König der Juden niederzuwerfen (Mt 2,2.10). In der Mitte des Evangeliums werfen sich die Jünger und Jüngerinnen vor ihm nieder, als er ihnen auf dem Wasser gehend begegnet und zu ihnen ins Schiff steigt (Mt 14,33). Auch am Ostertag werfen sich die Jünger vor Jesus nieder (Mt 28,9). Das Verb weist darauf hin, wie Matthäus Jesus gesehen haben möchte: Er spricht von Jesus in der Terminologie Gottes. Der Auftrag, alle Völker zu taufen, ist die Konsequenz aus der Überzeugung des Ersten Testaments, dass der Gott Israels der Gott aller Völker sein werde. Der Ort der letzten Begegnung ist ein bevorzugter Ort früher jüdischer Mystik. Wenn Mystik die unmittelbare Erfahrung Gottes ist, passt das sehr gut. Matthäus kann hier an jüdische Traditionen anknüpfen.

Mit Matthäus im Gespräch

Wie nebenbei legt der Evangelist in den letzten vier Versen seines Buches eine der Grundlagen des trinitarischen Glaubens des Christentums. Allein über diese Taufformel lassen sich ohne Probleme zehn Predigten halten. Das möchte ich jedoch Dogmatikerinnen und Dogmatikern überlassen. Vielleicht wäre es spannend, eine Predigt über die Lücken und Brüche des Textes zu halten? Eine dieser Lücken ist der Verweis auf den Berg in Galiläa. Darüber wurde bereits einiges geschrieben. Eine zweite Merkwürdigkeit ist der Verweis auf den Zweifel: «Und als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder. Einige aber hatten Zweifel» (Mt 28,17). Ist es nicht fast unglaublich, dass einige der Jüngerinnen und Jünger, die Jesus ja vor sich sahen, zweifelten? Und welche Konsequenzen hat das? Was will Matthäus damit sagen? Vielleicht heisst es einfach, dass der Zweifel immer und überall zu den Jüngerinnen und Jüngern dazu gehört. Selbst im Angesicht der Offenbarung Jesu. Oder dass eben nicht alle Mystikerinnen bzw. Mystiker sein können und es auch nicht sein müssen? Immerhin findet sich keine kritische Bemerkung an diesen Zweifelnden. Das sollte doch zu denken geben …