Wir beraten

In dieser Welt   

Katharina Schmocker Steiner zum Evangelium am 7. Sonntag der Osterzeit: Joh 17,6a.11b–19, SKZ 18/2012

 

Wer Fragen der Ethik, der Bildung und der Solidarität oder gar der Religion bzw. des Glaubens der Wirtschaftlichkeit, persönlichen Freiheit, der Bequemlichkeit (auch des Denkens) und Mobilität überordnet, wirkt in der industrialisierten und zivilisierten Gesellschaft manchmal schon, als wäre sie/er nicht von dieser Welt, sondern von einem anderen Stern. Wer allerdings genügend Selbstbewusstsein aufbringt und überzeugt ist von der Richtigkeit seiner Prioritätensetzung, kann die Wahrnehmung natürlich auch umkehren. Sie/er ist in den «falschen Film» geraten, was um ihn/sie herum geschieht, kann und darf doch nicht wahr sein.

«…was in den Schriften geschrieben steht»

«Der Ursprung/der Anfang (rosch bzw. arche) deiner Worte ist Wahrheit», bekennt der Beter/die Beterin mit Ps 119,160. In den 176 Versen dieses langen Psalms wird unermüdlich ein Lob von Gottes Weisungen, Geboten und Befehlen gesungen, immer verbunden mit der Beteuerung, dass sich der Psalmist daran hält und diesen nachforscht, und wie sehr ihn das beglückt. Zwischen den beinahe mantrischen Wiederholungen und Variationen dieses Themas tauchen jedoch auch, fast unmerklich, Hinweise auf, dass es ihm seine Umwelt nicht ganz so leicht macht, den Weisungen Gottes treu zu bleiben. «Wenn auch Fürsten über mich beraten: dein Knecht sinnt nach über deine Gesetze» (Ps 119,23); «Herr, deine Huld komme auf mich herab und deine Hilfe, wie du es verheissen hast. Dann kann ich dem, der mich schmäht, erwidern; denn ich vertraue auf dein Wort» (Ps 119,41f.); «Frevler legen mir Schlingen, aber ich irre nicht ab von deinen Befehlen» (Ps 119,110) usw. Doch die Selbstgewissheit, die z.B. in V 110 zum Ausdruck kommt, vermag sich bei aller Beteuerung des Eifers für und der Freude an Gottes Worten ebenfalls nicht ganz durchzuhalten. «Deinen Gesetzen will ich immer folgen. Lass mich doch niemals im Stich!» (Ps 119,8); «Halte mich fern vom Weg der Lüge» (Ps 119,29); «Deinen Vorschriften neige mein Herz zu, doch nicht der Habgier! Wende meine Augen ab von eitlen Dingen» (Ps 119,36 f.). Das Ringen um das treue Festhalten an Gottes Wort bei aller eigenen Schwäche und der Bösartigkeit der Umwelt wird schliesslich deutlich in den Bitten: «Erlöse mich aus der Gewalt der Menschen» (Ps 119,134) und: «Mein Flehen komme vor dein Angesicht. Reiss mich heraus, getreu deiner Verheissung!» (Ps 119,170).

Mit Johannes im Gespräch

Das Gebet Jesu im heutigen Textausschnitt aus dem Johannes-Evangelium wirkt fast wie eine Antwort auf den Ps 119: «Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, (…) ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren …» (Joh 17,12) und zugleich eine situationsbedingte stellvertretende Wiederaufnahme des Anliegens: «Ich bin nicht mehr in der Welt, aber sie sind in der Welt; (…) Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen» (Joh 17,11) und der Bekräftigung: «Dein Wort ist Wahrheit» (Joh 17,17). Jesus bittet dabei für seine Getreuen «nicht, dass du sie aus der Welt nimmst» sondern lediglich, «dass du sie vor dem Bösen bewahrst» (Joh 17,15). Denn anders als der (einzelne) Beter/die Beterin, der/die «nur Gast auf Erden ()» ist (Ps 119,19), war Jesus und sind seine Getreuen «in die Welt (kosmos) gesandt» (Joh 17,18). Mit dem Gastrecht sind üblicherweise ausser den Regeln des Anstandes keine Verpfl ichtungen verbunden, und der Gast kann jederzeit wieder gehen. In einer Sendung hingegen ist ein Auftrag, eine Aufgabe enthalten, die erfüllt werden muss, ob einem dies passt oder nicht (Jona) und ob man sich dafür geeignet fühlt oder nicht (Moses). Daher sind die Getreuen Jesu auch nicht an einen geschaff enen, vollendeten Ort, nämlich auf die Erde, sondern in ein System, nämlich die Welt/den Kosmos gesandt, das wandelbar und zu verändern ist. Und wenn Jesus betont: «Sie sind nicht aus der Welt, wie auch ich nicht aus der Welt bin» (Joh 17,16), so ist damit keine Auff orderung zur weltfremden religiös-ekstatischen Traumtänzerei und Abkehr vom irdischen Dasein verbunden. Vielmehr steht dahinter der Anspruch, dass gerade sie, denen der Name und die Worte der Wahrheit (Joh 17,6.8.17) geoff enbart wurden, in der Welt, dem Kosmos etwas bewirken können und sollen, weil sie nicht (mehr) durch die herrschenden Systeme korrumpiert sind. Sie haben andere Werte, die sie nicht einfach für sich, sondern in der Welt leben sollen, als Stachel im Fleisch, Sand im Getriebe, als Spiegel, den sie der Welt vorhalten. Dass die Welt darauf mit Hass reagiert (Joh 17,14), zeigt, dass sie nicht zufrieden ist, mit dem, was sie sieht. Nach wie vor reagieren Systeme und davon profi tierende Menschen auf eine derartige kritische Spiegelung nicht mit Veränderung, sondern mit der Zerschlagung des Spiegels. Weder die Passion Jesu (Joh 18–19) noch der Verrat durch Judas (Joh 17,12b; 18,2f) oder die Verleugnung durch Petrus (Joh 18,17.26 f.) sind dafür erste und auch nicht letzte Beispiele. Judas ist eine Veranschaulichung der Macht herrschender Systeme, Menschen zu brechen und sich einzuverleiben, sich dienstbar zu machen. Jesus steht für die Zerstörung derjenigen, die sich nicht brechen lassen. Beides sind Opfer der Systeme, auch «der Sohn des Verderbens» (Joh 17,12b). In diesem Bewusstsein gibt Jesus Judas einen letzten Sympathiebeweis, indem er «den Brocken eintaucht und ihm reicht» (Joh 13,26). Petrus schliesslich steht dazwischen, indem er zunächst der Angst vor der Macht erliegt, doch diese Angst überwindet, als er sieht, was die Macht bewirkt – den Tod Jesu – und erkennt, dass sie dennoch nicht das letzte Wort behält. Menschen wie ihm, die es schaff en, letztendlich weder Opfer noch Stützen mörderischer Systeme zu werden, wird der Auftrag Jesu übertragen, während dieser seine Mission off ensichtlich als erfüllt betrachtet. Er, der in die Welt, den Kosmos kam (Joh 1,9), hat Gott «auf der Erde verherrlicht und das Werk vollendet», so dass er jetzt in die Herrlichkeit (zurück-)einkehren kann, «die vor der Welt war» (Joh 17,4 f.). Seine Getreuen, die durch die Wahrheit geheiligt werden (Joh 17,17), werden nun durch ihn in die Welt gesandt, wie er in die Welt gesandt worden war (Joh 17,18) – und dies scheint mir die wesentlich wichtigere Gemeinsamkeit, die Jesus mit ihnen, mit uns verbindet, als dass sie, wie er, nicht aus dieser Welt sind. Dafür spricht auch, dass der Auferstandene die verängstigten Getreuen einzig daran erinnert: «Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch» (Joh 20,21). Diese Bekräftigung des Auftrags wird hineingestellt in die Ambivalenz der Wundmahle (Joh 20,20) und des zweimaligen Zuspruchs: «Friede mit euch!» (Joh 20,19.21), welche die Ambivalenz von Ps 119 widerspiegelt. Der Wahrheit, Gott, treu zu sein, ist zugleich befriedigend und aufreibend. Wie recht doch Jesus hatte, dass er noch die «Bitte um Einheit» (Joh 17,20–26) anfügte, denn alleine kann jede/jeder nur scheitern. Doch kann damit nicht Einheitlichkeit gemeint sein, die der Wahrheit niemals gerecht werden kann. Eher triff t es ein Leitmotiv des Zürcher Lehrhauses: «Voneinander und miteinander lernen» bzw.: «Lieber miteinander streiten, als einsam recht haben.»