Wir beraten

Freunde, nicht Knechte   

Franz Annen zum Evangelium am 6. Sonntag der Osterzeit: Joh 15,9–17

 

Das zu besprechende Sonntagsevangelium bildet zusammen mit dem Weinstock-Gleichnis vom vergangenen Sonntag (Joh 15,1–8) eine kunstvoll geformte Einheit. Das Bild des Weinstocks wird nun im zweiten Teil (Joh 15,9-17) gedeutet: Was den Weinstock und die Reben zu einer lebendigen Einheit verbindet, sind «Liebe» (Vers 9.10.12.13.17) und «Freundschaft» (Vers 13–15).

«Was in den Schriften geschrieben steht»

Dass die Liebe, sowohl die Gottes- wie die Nächstenliebe, nicht ein neutestamentliches Spezifikum im Unterschied oder gar im Gegensatz zum AT ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Noch heute ist das Gebot der Gottesliebe dem gläubigen Juden so wichtig, dass er es im Schema-Gebet (vgl. Dtn 6,4–9) täglich wiederholt. Dabei ist es dem AT und dem Judentum klar, dass die Gottesliebe sich darin zeigt, dass man die Gebote Gottes hält (vgl. den Kontext von Dtn 6,4–9). Das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) mag nicht so offensichtlich im Zentrum stehen; aber in der Sache prägt es viele Gesetze, die den Umgang mit den Volksgenossen, aber auch mit den Fremden im Land, ja sogar mit den Feinden regeln.

Das Ideal der Freundschaft war im griechischen Denken und später auch in der römischen Welt sehr wichtig. Es wurde viel darüber nachgedacht, gesprochen und geschrieben. 1 Sogar für den Spitzensatz in Joh 15,13 gibt es in der antiken Literatur frappante Parallelen: Der Tod für Freunde ist das höchste Zeichen der Liebe.2 Aus leicht ersichtlichen Gründen war die Freundschaft mit Hochgestellten eine wichtige Sache. So gab es im Seleukidenreich den offiziellen Titel «Freund des Königs» (vgl. 1 Makk 10,20.65; 11,27.57), der dem Träger Ansehen und Einfluss brachte. Ebenso war es im römischen Kaiserreich mit dem Titel «Freund des Cäsars » (vgl. Joh 19,12).

Im AT wird Abraham «Freund Gottes » genannt (Jes 41,8; 2 Chr 20,7). Das spätere Judentum, u. a. Philo von Alexandrien, sprechen diesen Ehrentitel auch andern Patriarchen und Mose, ja sogar den Israeliten als solchen zu, besonders auch jenen, die sich mit der Thora beschäftigen.3 Als Grundlage dieser Bezeichnung wird das vertraute Verhältnis Gottes zu ihnen gesehen; Gott geht in grosser Offenheit mit ihnen um und weiht sie in seine Pläne ein. BerR 49,2 sagt in der Auslegung von Gen 18,17 sogar: «Im Blick auf Abraham, der ihm [Gott] der Liebste von ihnen war, sprach er: Ich tue nichts ohne sein Wissen.»4

Vor diesem Hintergrund ist Joh 15,13 zu lesen: «Es gibt keine grössere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt» (Joh 15,13). Das ist nicht nur als allgemeine Maxime gemeint, sondern als zentrale johanneische Interpretation des Kreuzes Jesu. Joh 13,1 leitet den Abendmahlsbericht feierlich ein mit den Worten: «Es war vor dem Paschafest. Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen. Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung.» Am Kreuz hängend weiss Jesus, «dass alles vollendet ist» (19,28), und stirbt mit dem Wort auf den Lippen: «Es ist vollendet» (19,30). Die Liebe, die in der Fusswaschung exemplarisch zum Ausdruck kommt, wird am Kreuz vollendet. Diese Liebe zu den Seinen, die bis zur Hingabe des Lebens geht, entspricht der Liebe, mit welcher der Vater ihn liebt (15,9), und ist so eine Offenbarung des Gottes, von dem Jesus im Nikodemus-Gespräch sagt (3,16): «Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab.» D er Jüngerkreis ist der Kreis der Freunde Jesu, die er so sehr liebt, dass er für sie stirbt; und sie sind daran erkennbar, dass sie einander lieben (13,35). Die Fusswaschung Jesu ist für sie exemplarisch (13,34): «Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.» Das wiederholt Jesus jetzt im Anschluss an das Gleichnis vom Weinstock (15,12): «Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.» Und nochmals eindringlich zum Abschluss (15,17): «Liebt einander! » Und so wie sich die Liebe zu Gott und die Freundschaft mit Gott im AT durch das Halten der Gebote Gottes ausdrückt, so ist es auch im Freundschaftsverhältnis der Jünger mit Jesus: Sie bleiben in seiner Liebe, wenn sie seine Gebote halten (14,15.21.23; 15,10.14).

Nicht übersehen sollten wir, was Jesus als Kennzeichen seiner Freundschaft (15,15) nennt: «Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.» Im offenen Umgang bestand schon im AT die Freundschaft Gottes mit Abraham u. a. Und das unterscheidet auch die Freunde Jesu von Knechten, die ebenfalls wie die Jünger den Willen des Herrn erfüllen. Aber «der Knecht weiss nicht, was sein Herr tut» (15,15), während die Jünger als Freunde Jesu in alles eingeweiht sind. Offenheit kennzeichnet die Freundschaft. Unter Freunden gibt es kein Geheimnis.

Mit Johannes im Gespräch

Die johanneische Deutung des Todes Jesu als Ausdruck der Liebe Jesu und letztlich der Liebe Gottes selbst kann auch heutige Menschen ansprechen. Sie ist m. E . leichter zugänglich als der paulinische Sühnegedanke, der komplizierte theologische Erklärungen erfordert, damit er nicht missverstanden wird und das Gottesbild nicht beschädigt. D er Jüngerkreis als Kreis der Freunde Jesu stellt uns ein Kirchenbild vor Augen, das wir nicht ernst genug nehmen können. Die Kirche heute, deren Mitgliederzahl in die Milliarden geht, kann nicht in gleicher Weise ein «Freundeskreis» sein wie die Jünger am Abendmahlstisch. Aber durch die Weinstockrede werden Koordinaten vorgegeben, die auch heute gelten müssen, wenn wir uns als Nachfolger dieses Jüngerkreises verstehen wollen. Da steigen mir im Blick auf unsere real existierende Kirche Fragen auf: – Jesus ist die Mitte dieses Kreises. Sein Wort ist oberstes Gebot. Alle Amtsträger bis hinauf zum Papst haben Dienstfunktion; ihre Gebote dürfen nur dazu dienen, sein Gebot zu erfüllen. Ist das immer so klar? – Das oberste und umfassende Gebot Jesu, das den Massstab für alle andern Gebote gibt, ist die gegenseitige Liebe. «Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt» (Joh 13,35). Kann man uns in der heutigen Welt daran erkennen, dass wir einander lieben? Könnte es sein, dass das Ansehen der Kirche in der heutigen Welt gerade wegen dieses oft fehlenden oder gar pervertierten Zeugnisses so gelitten hat? – Freunde haben keine Geheimnisse voreinander. Fehlende Transparenz wird auch in der politischen Welt der westlichen Demokratien zu Recht immer deutlicher gefordert und durchgesetzt. Wie ist es mit der Transparenz in der Kirche, dieses Kreises der Freunde Jesu, unter denen es keine Geheimnisse geben darf? Wieviel Knechtsgehorsam, der nicht verstehen, sondern gehorchen soll, wird da immer noch erwartet?