Wir beraten

Idyllisch, theologisch oder konkret?   

Winfried Bader zum Evangelium am 4. Sonntag der Osterzeit: Joh 10,11–18, SKZ 14-15/2012

 

Auch wenn es ihn in unseren Breitengraden heute fast nicht mehr gibt, so meint doch jeder zu wissen, wie er ist und was er macht: der Hirte. Man stellt sich ihn vor mitten im Naturidyll und seine Aufgaben so wie in den Gleichnissen des guten Hirten. Genauso hat ihn die Kunstgeschichte überliefert, und das ist unser Bild von ihm.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Wie kaum ein anderes Motiv ist die Bildsprache des Hirten, die Jesus in den Evangelien verwendet, geprägt von seiner eigenen Bibel, dem Ersten Testament. Da ist nicht nur der seit Luther so viel verwendete Psalm 23: «YHWH ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen», der das Bild des Hirten aus der Sicht der Herde entfaltet, die durch den Hirten Nahrung und Trank («grüne Auen» und «Ruheplatz am Wasser», Ps  23,2) erhalten.

Mit weniger Wirkungsgeschichte als der Psalm, aber viel ausführlicher, hat Ezechiel das Bild vom Hirten in seiner grossen Hirtenrede entwickelt (Ez 34).

Zunächst beschreibt Ezechiel die schlechten Hirten (Ez 34,1–10). Die schlechten Hirten kümmern sich nur um sich selbst, aber nicht um die Herde (Ez 34,2). Sie beuten die Herde aus, indem sie Milch trinken, die Wolle nehmen und das Fleisch essen, geben aber der Herde dafür nichts zurück (Ez 34,3). Die ganze Herde wird schlecht behandelt: «Die schwachen Tiere stärkt ihr nicht, die kranken heilt ihr nicht, die verletzten verbindet ihr nicht, die verscheuchten holt ihr nicht zurück, die verirrten sucht ihr nicht und die starken misshandelt ihr» (Ez 34,4). Die Folge ist, dass sich die Herde zerstreut (Ez 24,5). Gemeint sind mit diesen Hirten die schlechten Führer Israels, die Könige und Fürsten, die das Volk ausbeuten und falsche politische Entscheidungen treffen. Bis – oder gerade – heute gibt es solche Hirten, und man kann manche Entscheidung in der Führungsetagen eines Konzerns am einfachsten und treffendsten kommentieren, indem man diese alten Verse vorliest.

Die Wende im Text von Ezechiel kommt durch das Eingreifen Gottes: «Nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe von ihnen zurück. (…) Ich reisse meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Frass sein» (Ez 34,10). Dazu Amos: «Wie ein Hirt aus dem Rachen des Löwen von einem Schaf zwei Wadenknochen rettet oder den Zipfel eines Ohres» (Am 3,12). Die schlechten Hirten werden bei Ezechiel gleichgesetzt mit den Löwen, sie fressen ihre Schafe. Dagegen greift nun Gott selbst als Hirte ein und rettet die Schafe aus dem Rachen. Er, der gute Hirte, kümmert sich um die Schafe (Ez 34,11). Er holt die Schafe zurück und führt sie zusammen auf die Weide (Ez 34,12–15). «Die verlorengegangenen Tiere will ich suchen, die vertriebenen zurückbringen, die verletzten verbinden, die schwachen kräftigen, die fetten und starken behüten. Ich will ihr Hirt sein und für sie sorgen, wie es recht ist» (Ez 34,16).

Ezechiel bleibt nicht bei dem Schwarz-Weiss-Bild schlechter und guter Hirte stehen. Er nimmt auch die Herde in Blick, stellt fest, dass manche Probleme durch sie selbst verursacht sind, und reflektiert darüber: «Ich [Gott] selbst sorge für Recht zwischen den fetten und den mageren Schafen. Weil ihr mit eurem breiten Körper und eurer Schulter alle schwachen Tiere zur Seite gedrängt und weil ihr sie mit euren Hörnern weggestossen habt, bis ihr sie weggetrieben hattet, deshalb will ich meinen Schafen zu Hilfe kommen. Sie sollen nicht länger eure Beute sein; denn ich werde für Recht sorgen zwischen den fetten und mageren Schafen» (Ez 34,20–22). Gott als der gute Hirte hat auch diese Probleme im Blick und schlichtet zwischen den Schafen, hebt die Ungleichheit zwischen den starken und schwachen auf.

Prophetische Verkündigung bleibt nie nur Theologie, sondern wird immer konkret. So wird auch Gott als Hirte konkret: «Ich setze für sie einen einzigen Hirten ein, der sie auf die Weide führt, meinen Knecht David. Er wird sie weiden und er wird ihr Hirt sein. Sie werden erkennen, dass ich, der Herr, ihr Gott, mit ihnen bin (…). Ihr seid meine Schafe, ihr seid die Herde meiner Weide. Ich bin euer Gott» (Ez 34,23.30.31). Ein Mensch wird die Hirtenfunktion ausüben und für das Volk sorgen. David ist der schöne (ist das gut?) Hirte (1 Sam 16,12). Er selbst sagt von sich: «Dein Knecht [David] hat für seinen Vater die Schafe gehütet. Wenn ein Löwe oder ein Bär kam und ein Lamm aus der Herde wegschleppte, lief ich hinter ihm her, schlug auf ihn ein und riss das Tier aus seinem Maul» (1 Sam 17,34–35). Er verteidigt die Schafe und schützt sie vor den wilden Tieren, den Löwen und Bären und an anderer Stelle auch vor den – nicht nur als Tiere gemeinten – Wölfen: «Mitten in ihm sind seine Beamten wie Wölfe, die auf Beute aus sind; sie vergiessen Blut und richten Menschenleben zugrunde, um Gewinn zu machen» (Ez 22,27). «Ihre Richter sind wie Wölfe der Steppe» (Zef 3,3).

Das Bild des Hirten und seiner Herde in der Bibel Jesu ist ein differenziertes Bild für den Zustand des Volkes, den Gruppierungen im Volk und den Führern des Volkes. Es wird in Beziehung zu Gott gesetzt, der selbst Hirte sein will und diese Aufgabe wahrnimmt, indem er einen menschlichen Hirten einsetzt.

Mit Johannes im Gespräch

Johannes knüpft an diese Vorstellung in seiner Hirtenrede an (Joh 9,40–10,6). Gleich zu Beginn seiner Kommentierung und Weiterführung des zweiten Teils dieser Hirtenrede (Joh 10,11–18) – das ist der heutige Evangelientext – knüpft er die Verbindung zu David. Indem er für den «guten» Hirten statt agathos das Adjektiv kalos = schön verwendet (Joh 10,11). So wurde David bezeichnet.

Bei Johannes ist das Gegensatzpaar nicht mehr guter und schlechter Hirt, sondern Hirt und bezahlter Knecht. Von diesem Mietling wird im konkreten Bild der Viehzucht gesprochen. Er verteidigt die Schafe nicht gegen die Wölfe (Joh 10,12). Beim guten Hirten wird die konkrete Bildwelt kaum ausgeführt. Lediglich bei den «andern Schafen» (Joh 10,16) wird sie angedeutet. Man kann die Ausführungen Ezechiels zum Zustand innerhalb der Herde mithören. Die «anderen Schafe» sind nicht nur die «Heiden», sondern die Gruppierungen der Herde. Jesus ist für alle da, die Starken und Schwachen, die Rücksichtslosen und die Unterdrückten. Seine Aufgabe ist, Friede zwischen den Gruppierungen zu stiften.

Das Bild des guten Hirten wird bei Johannes übersteigert: Jesu gibt sein Leben für die Schafe (Joh 10,11.17). Das in die politische Situation hinein gesprochene konkrete Hirtenbild des Ezechiel, das von diesem aktuellen Bezug seine Kraft gewinnt, bekommt so die Dimension der Erlösungstheologie und wird damit gesprengt. Die Botschaft Jesu ist, dass sein Leiden und Sterben die Besiegelung seiner Botschaft ist, die konkret im Hier und Jetzt das Reich Gottes will, so konkret, wie es das Bild der guten und schlechten Hirten ist.