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Die Steigerung von «wund»? Wunder   

Peter Zürn zum Evangelium am 2. Sonntag der Osterzeit: Joh 20,19–31, SKZ 12/2012

 

Haben Sie einen wunden Punkt? Wo genau liegt der? Wie fühlt es sich an, wenn jemand den Finger darauflegt? Gibt es kollektive wunde Punkte? Welches sind die wunden Punkte von uns als Kirche? Es ist gut, mit Wunden sorgsam und zartfühlend umzugehen. Haben Wunder etwas mit Wunden zu tun?1

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Der Text beginnt mit einem Zahlenspiel, das nicht nur eine Spielerei ist. Joh 20,19 zeigt, dass wir uns immer noch am Tag eins der Woche befinden. Im Griechischen steht hier nicht die Ordinalzahl (proté, der erste), sondern die Kardinalzahl (mia, eins) – genau wie in der Schöpfungserzählung von Gen  1. Auch dort ist ausdrücklich nicht vom «ersten Tag» (hebräisch rischon) die Rede, sondern vom «Tag eins» (echad). Die folgenden Schöpfungstage werden mit den Ordinalzahlen gezählt, zweiter, dritter Tag usw. Nicht aber der Tag eins. Er ist nicht der erste in einer Reihe von weiteren Tagen, sondern ein besonderer Tag. Er ist Voraussetzung und tragender Grund für alle folgenden Tage. Die Formulierung «Tag eins» ist eine grammatikalische Anomalie, denn die Wochentage werden im Hebräischen normalerweise mit der Ordinalzahl angegeben. Der Tag eins ist kein normaler Tag. Er durchbricht die Norm, setzt eine Neue. Gott setzt neue Massstäbe, auf deren Grundlage die Welt als Schöpfung Gottes möglich wird.

Die Septuaginta überträgt diese sprachlich-theologische Anomalie ins Griechische. Das Johannesevangelium nimmt das auf. Joh 20 spielt am Tag eins. Es ist wieder Tag eins der Schöpfung. Was hier erzählt wird, folgt nicht den herrschenden Normen, sondern den Massstäben Gottes für das Leben. Das Bild der Jüngerinnen und Jünger in 20,19–31 atmet aber gar nichts vom Geist der Schöpfung. Sie sitzen hinter verschlossenen Türen und sind von ihrer Umgebung völlig isoliert. Der Grund: ihre Angst vor den Juden. Sie isolieren sich genau von denen, zu deren Rettung Jesus gekommen ist. Gerade diese versprengten Kinder Gottes wollte er «in eins (!) zusammenführen» (Joh 11,52). Gott sei Dank kommt der Messias und durchbricht ihre Isolation von aussen. Aber nicht einmal das macht es ihnen möglich, sie auch von innen zu durchbrechen, denn 8 Tage später sitzen sie wieder (oder immer noch?) hinter verschlossenen Türen (20,26). Es ist absurd. Die von Jesus Gesandten (20,21) bleiben unter sich und von ihrer Umwelt abgeschlossen. Da muss auch der Geist Gottes, der in Gen 1,2 über den Wassern schwebt und ihnen in Joh 20,22 eingehaucht wird, wirkungslos bleiben. Den Lehmkloss von Gen 2,7 konnte er zu einem lebendigen Menschen machen, die Jüngerinnen und Jünger hinter den verschlossenen Türen dagegen bewegen sich nicht. Spüren Sie auch ein Lächeln aufsteigen? Der Evangelist erweist sich in dieser Szene durchaus als Satiriker.

Mit Johannes im Gespräch

Auftritt des «ungläubigen Thomas». Was der in 20,24–25 («wenn ich nicht … glaube ich nicht») sagt, ist keineswegs die Aussenseitermeinung in dieser Gruppe, sondern viel eher die alles beherrschende und alle lähmende Mehrheitsmeinung. Was aber Thomas von den anderen unterscheidet, ist, dass er Worte für das Lähmende findet. Er legt den Finger auf den wunden Punkt der Gruppe, lange bevor er die Finger in die Wunde Jesu legt. Und macht dabei Nägel mit Köpfen. Er spricht ungeschminkt von den Malen der Nägel, die die Wunden Jesu verursacht haben (anders als in Vers 20). Thomas benennt die brutale Gewalt, der Jesus zum Opfer gefallen ist und die sie alle weiterhin bedroht. Sie und auch die anderen Jüdinnen und Juden in Jerusalem. Es ist die Gewalt des römischen Imperiums, die Gewalt der die Welt beherrschenden Macht. «Rom» ist die Norm dieser Welt. «Rom» entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss. Dass «Rom» siegt, ist das Normale. Was soll angesichts dieser Normalität ein einzelner Mensch ausrichten, sei er auch noch so geisterfüllt und gottvertraut wie Jesus? Was soll in dieser Welt eine kleine Gruppe wie die ihre bewirken? Was soll denn jetzt noch die Rede vom Gott der Schöpfung, der Befreiung und des Lebens? Ist es jetzt, nach dem Tod Jesu, nicht sogar schlimmer als vorher? Sie haben angefangen, an das Reich Gottes zu glauben; sie haben Schritte hineingemacht; sie haben Wunder erfahren; ihre Hoffnungen sind brutal zerschlagen worden. Jetzt tut die Realität noch mehr weh. Das Wundervolle hat sie verwundbarer gemacht. Die Steigerung von «wund» ist «wunder» (Jürgen Ebach).

Heute sind an die Stelle «Roms» andere todbringende Gewalten getreten. Aber die Fragen sind geblieben. Es sind gegenwärtige Fragen, und sie sind uralt. Das Volk Israel hat sie gestellt. Nach der Befreiung aus dem Sklavenhaus, nach den ersten Schritten in der Wüste, gab es im Lager kein Wasser mehr – ein wunder Punkt. Das Volk fragt: «Ist Gott in unserer Mitte oder nicht» (Ex 17,7). Die Geschichte von Ex 17 erzählt, dass Gott sich als Kraft erweist, die auch in kargen und bedrohlichen Zeiten mit dem Volk in Beziehung bleibt. Mose nennt den Ort anschliessend «Massa und Meriba, Probe und Streit, weil die Israeliten Streit begonnen und den Herrn auf die Probe gestellt hatten». Wir könnten den Ort der Jüngerinnen und Jünger hinter den verschlossenen Türen in Jerusalem als neues Massa bezeichnen, als Ort der Probe. Ihm fehlt die Qualität Meribas, des Streites. Diese Fähigkeit ist nicht immer leicht auszuhalten, wovon Mose in Ex 17,4 ein Lied singt, das später noch etliche weitere Strophen bekommt. Sie ist aber auf jeden Fall eine höchst lebendige Kraft, die Dinge in Bewegung bringt und hält. Der gelähmten Gruppe hinter den verschlossenen Türen wäre davon mehr zu wünschen. Schade, dass die Furcht vor den Juden das im Moment noch verhindert.

Hinter den verschlossenen Türen jedenfalls tritt Jesus zweimal in die Mitte der Gruppe. Gott sei Dank kommt der Messias nicht nur einmal, sondern zweimal. Zweimal wünscht er ihnen den Frieden. Es ist ein anderer Frieden gemeint als die herrschende pax romana. Und es geht wohl ein Stück weit auch um den Frieden mit sich selbst, mit all den wunden Punkten. Da ist es gut, zartfühlend mit den wunden Punkten umzugehen. Thomas will den Finger in die Wunde legen und verwendet dafür das griechische Wort balein, stecken. Jesus fordert ihn auf, das zu tun, gebraucht aber das Wort pherein: «Nimm deinen Finger und  …» So leitet er die Gruppe im Umgang mit den eigenen wunden Punkten zu mehr Behutsamkeit an. Und zugleich verkörpert der verwundete Auferstandene, was der Gruppe der Jüngerinnen und Jünger (und mit ihnen auch uns) verheissen ist: mit den wunden Punkten, mit den Verletzungen, die einem zugefügt werden und die man sich unterwegs holt, weiterzuleben und weiterzugehen. Walter Achermann schreibt zu einem Bild von Emil Nolde, das Jesus und den ungläubigen Thomas zeigt: «Nicht den Unverletzbaren ist das Leben versprochen, sondern denen, die verletzlich bleiben für andere.»2 Ein grosses Wunder.

1 Den ersten Teil des Textes, Joh 20,19–23, habe ich bereits in SKZ 178 (2010), Nr. 13–14, 269, ausgelegt. Wieder verdanke ich wichtige Anregungen Ton Veerkamp: Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums Teil II in: Texte und Kontexte 30 (2007), 113–115.

2 Walter Achermann: Der wunde Punkt in: Bibel heute 171 (3/2007): Das Thomasevangelium, 24.