Wir beraten

Sich unterschiedlich dem Unfassbaren nähern   

Hans Rapp zum Evangelium am Ostertag: Joh 20,1–18, SKZ 11/2012

 

Die Geschichte vom leeren Grab ist im Johannesevangelium eine Geschichte von unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Wahrnehmungsweisen. Johannes erzählt von einem Wettrennen der beiden Jünger, Petrus und der Lieblingsjünger, auf das Grab Jesu zu. Es geht aber tiefer. Es geht auch um die Geschwindigkeit, mit der die unterschiedlichen Personen sich geistig (und geistlich) dem Rätsel des leeren Grabes nähern. Und nicht zuletzt ist es eine Geschichte darüber, wie sich die unterschiedlichen Geschlechter dem Mysterium annähern. Während die Männer ein Wettrennen veranstalten – ist das «typisch männlich»? – ist die Frau sowohl die Erste als auch die Letzte. Ihr wird die erste unmittelbare Begegnung mit dem Auferstandenen letztlich geschenkt. Die Stelle eignet sich hervorragend dafür, sich eigene Zugänge – als Mann, als Frau, als «Analytiker», als «Mystikerin» – zum Geheimnis des leeren Grabes spiegeln zu lassen. Deswegen wäre es schade, das Evangelium auf die Verse Joh 20,1–9 zu begrenzen. Man würde den spannenden Text einer sehr wichtige Dimension berauben.

Im Gespräch mit Johannes

Die Bedeutung des leeren Grabes enthüllt sich den handelnden Personen Stück für Stück. Johannes erzählt die Geschichte vom leeren Grab aus zwei Perspektiven mit drei unterschiedlichen Hauptdarstellern/-darstellerinnen. Die eine Perspektive ist verbunden mit Maria Magdalena. Die Erzählung vom leeren Grab beginnt aus der Sicht von Maria Magdalena (Joh 20,1–2) und sie endet damit (Joh 20,10–18). Dieser «weibliche» Zugang zum leeren Grab nimmt damit mit 21 Versen den grössten textlichen Raum ein, und sie bildet für die gesamte Erzählung einen Rahmen! Dieser Erzählstrang wird weitgehend in der Gegenwart erzählt.  Es scheint, als ob Johannes diesem Handlungsstrang eine hohe Unmittelbarkeit verleihen wollte. Maria nimmt zunächst die äusseren Gegebenheiten wahr. Der Stein des Grabes ist weggenommen, das Grab ist leer. Sie geht davon aus, dass jemand Jesus weggenommen und ihn an einen unbekannten Ort gelegt habe (Joh 20,2). Sie «rennt» zu den Jüngern und löst damit den Mittelteil der Erzählung aus.

Dieser Erzählstrang hat in den beiden Jüngern – Petrus und der Jünger, den Jesus liebte – ihre beiden Protagonisten. Er ist überwiegend in der Vergangenheitsform des Aorists verfasst. Das ist in der griechischen Sprache die klassische «Erzählzeit». Simon Petrus und der Jünger, den Jesus liebte, sprinten zum Grab Jesu. Diese Erzählung hat etwas Komisches an sich, und sie ist, wie es sich für Männer gehört, sehr actionreich. Der Lieblingsjünger erreicht das Grab zuerst, geht jedoch nicht hinein. Er beugt sich lediglich vor, schaut ins Grab und sieht die zusammengefalteten Tücher (20,5). An diesem Punkt überholt ihn Petrus und geht hinein. Auch Petrus sieht die Tücher. Er sieht sogar noch ein anderes Detail: Das Schweisstuch liegt nicht bei den Grableinen, sondern an einem besonderen Ort (Joh 20,7). Danach liegt die Initiative wieder bei dem anderen Jünger. Er tritt ebenfalls in das Grab. Johannes formuliert: «Er sah und glaubte» (20,8). Der Lieblingsjünger ist der Gewährsmann des Johannesevangeliums: «Dieser Jünger ist es, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist» (Joh 21,24). Vielleicht lebt der «Lieblingsjünger» hier eine Haltung vor, mit dem leeren Grab umzugehen, hinter der der Verfasser des Johannesevangeliums steht: Nur die blosse glaubende Annahme kann eine angemessene Antwort auf das leere Grab sein.

Damit kehrt die Aufmerksamkeit wieder zu Maria zurück. Sie hat die Geschwindigkeit herausgenommen. Im Gegensatz zur hektischen Aktivität der Jünger kommt sie zur Ruhe. Sie ist stehen geblieben. Auch sie blickt in die Grabkammer hinein – und sieht etwas völlig anderes als Petrus und der andere Jünger. Sie sieht zwei Engel in weissen Gewändern dort sitzen, wo Jesus gelegen hatte (20,12). Es ist eine spannende Frage, ob die Engel vorher bereits dort gesessen hatten, als die beiden Jünger dort gewesen waren. Hatten sie sie übersehen? Oder haben sie auf die falschen Dinge geschaut? Konnten sie sie nicht wahrnehmen, weil ihnen der Blick für Engel fehlte? Oder wollten sich die Engel eben erst der Frau zeigen? Und wenn das der Fall ist, warum wohl? Jedenfalls genügt diese Erscheinung für Maria noch nicht, dass sie begreift, was sie sieht. Noch immer geht sie davon aus, dass «jemand» die Leiche Jesu weggeschafft habe. Nicht einmal die übernatürliche Erscheinung schafft es, die ursprüngliche Meinung Marias ins Wanken zu bringen. Selbst als sie unmittelbar vor Jesus steht, hält sie ihn für den Gärtner und fragt auch ihn, wohin sie Jesus gelegt hätten, damit sie ihn mitnehmen könne. Erst als Jesus sie beim Namen nennt, erkennt sie ihn (20,16). Das richtige Verständnis dessen, was sie sieht, wird ihr geschenkt. Sie ist eine Berufene.

Wie es in den Schriften geschrieben steht

«Da ging auch der andere Jünger, der zuerst an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte. Denn sie wussten noch nicht aus der Schrift, dass er von den Toten auferstehen musste» (Joh 20,8 f.). Johannes stellt dem spontanen «Glauben» des Jüngers das «Wissen» aus der Schrift gegenüber. Es steht für Johannes ausser Zweifel, dass in den Schriften des Ersten Testaments von der Auferstehung des Gesalbten von den Toten die Rede ist. Er führt nicht weiter aus, welche Texte er damit meint. Offensichtlich wissen die Leserinnen und Leser, was damit gemeint sein könnte. Textstellen aus dem Ersten Testament, die in dieser Weise gelesen werden können, gibt es nicht wenige. Ein Beispiel ist Psalm 16,8–11. In der Apostelgeschichte (Apg 2,25–28) zieht Petrus diese Textstelle in seiner Pfingstpredigt als Beleg für die Auferweckung Jesu heran: «Ich habe den Herrn beständig vor Augen. Er steht mir zur Rechten, ich wanke nicht. Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Seele; auch mein Leib wird wohnen in Sicherheit. Denn du gibst mich nicht der Unterwelt preis; du lässt deinen Frommen das Grab nicht schauen. Du zeigst mir den Pfad zum Leben. Vor deinem Angesicht herrscht Freude in Fülle, zu deiner Rechten Wonne für alle Zeit.» Für Johannes ist es keine Frage, dass sich aus dem Ersten Testament die Notwendigkeit der Auferstehung Jesu begründen lässt. Er erzählt aber auch, dass dieser Weg für Maria und die beiden Männer nicht offen war. «Glauben» ist für ihn nicht in erster Linie eine Sache der Gelehrsamkeit, auch wenn beides keine Gegensätze sind. Vielmehr kommen alle drei auf ihre jeweils eigene Weise und Geschwindigkeit dazu, das zu erfassen, was sie wahrnehmen: der Lieblingsjünger mit seinem spontanen Glauben, Maria dadurch, dass Jesus sie beim Namen ruft, und Petrus durch den Bericht Marias. Für alle gilt aber auch, dass sie den Auferstandenen nicht (fest-)halten können (Joh 20,17). Dass Petrus der Erste im Inneren des Grabes war und damit das Wettrennen letztlich für sich entschieden hat, hat ihm jedenfalls keinen Vorteil verschafft. Das ist doch tröstlich für uns, oder?