Wir beraten

Was ist Wahrheit?   

Katharina Schmocker zum Evangelium an Karfreitag: Joh 18,1–19,42, SKZ 11/2012

 

Jahr für Jahr erinnern wir uns daran, wie Jesus geschlagen, geschunden und getötet wurde – wissend, dass es schon und noch immer vielen Menschen ähnlich oder gar noch schlimmer ergangen ist und ergeht. Eine Tradition vermittelt, Jesus sei dafür Mensch geworden, um «für unsere Schuld zu sterben». Doch wofür starben und sterben denn all die anderen Menschen, deren Tod dem seinen so gleicht? Jesus selbst erklärt: «Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege» – eine lebensgefährliche Mission, wenn man dadurch zwischen Fronten gerät.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Die Passion Jesu beginnt und endet im Johannesevangelium in einem Garten; von einem Garten, in welchem er «oft mit seinen Jüngern zusammengekommen war» (Joh 18,1 f.), wird er mitten aus seinen Getreuen fortgeführt; in einem Garten, nahe «bei dem Ort, wo man ihn gekreuzigt hatte», wurde er in einem neuen Grab, «in das noch niemand gelegt worden war» (Joh 19,41), beigesetzt. Zwischen diesen zwei Stätten, die für Ruhe, Harmonie, blühendes oder keimendes Leben stehen können, steht die Nachricht, wie Jesus zwischen den Mühlsteinen der Macht und der vorgeschobenen Justiz zermalmt wird. Damit umspannen die beiden Gärten den schmerzvollen Weg vom Leben inmitten befreundeter Menschen zur absoluten Verlassenheit und Einsamkeit im Tod.

Der sonst selten anzutreffende Begriff kepos wird dabei dreimal verwendet. Die Passionsgeschichte ist insgesamt durchzogen von «Dreiheiten»: Judas kommt mit einem Trupp, den Knechten der Hohenpriester und [Knechten] der Pharisäer (18,3); diese tragen Fackeln, Laternen und Waffen (18,3); Jesus wusste, ging hinaus und fragte (18,4); die dreimalige Bestätigung «Ich bin es» (ego eimi; 18,5.6.8); der Trupp, sein Befehlshaber und die Knechte der Juden (18,12) nahmen fest, fesselten und führten zu Hannas (18,12 f.); Jesus wird vor Hannas, vor Kajafas und vor Pilatus geführt (18,12.24.28); er spricht dreimal von seiner Königsherrschaft (19,36); Petrus schlägt Malchus ein Ohr ab, ein Diener schlägt Jesus ins Gesicht, die Soldaten schlagen Jesus ins Gesicht (18,10.22; 19.3); Petrus leugnet dreimal, zu Jesus zu gehören (18,17.25.27); Pilatus betont dreimal, dass er keine Schuld bei Jesus finde (18,38; 19,4.6); mit Jesus zusammen sind es drei Gekreuzigte (19,18); die Aufschrift auf dem Kreuz Jesu war hebräisch, lateinisch und griechisch (19,20) und schliesslich werden bei der Kreuzigung drei Schriftzitate angefügt mit dem Kommentar, dass sich so die Schrift erfüllte (19,24.28.36).

Die ganze kunstvoll verschlungene und durch Einschübe ergänzte Schilderung lässt sich in drei Hauptstränge aufgliedern: eine Jesus-, eine Petrus- und eine Hohenpriester-Pilatus-Geschichte. Die Zahl der Vollkommenheit mündet in Jesu letztem Wort: «Es ist vollbracht» (19,30).

Auffällig ist weiter, dass Jesus zwar vor Hannas, Kajafas und Pilatus geführt, aber nur das Verhör vor Pilatus ausführlich geschildert wird, wobei Pilatus zwischen der Auseinandersetzung mit Jesus und der mit den jüdischen Vertretern hin und her pendelt. Gegenüber Hannas’ offensichtlich rhetorischer Frage verweigert sich Jesus – «Warum fragst du mich? Frag doch jene, die gehört haben, was ich zu ihnen gesprochen habe» –, und das Geschehen bei Kajafas scheint dem Evangelisten nicht erwähnenswert. Er schiebt stattdessen den Bericht über die Verleugnung durch Petrus ein. Während Jesus Hannas’ Frage als Heuchelei entlarvt, erwartet er von Pilatus offenbar nicht, dass dieser weiss, worum es geht, – «Fragst du das von dir aus oder haben es dir andere über mich gesagt?» (18,34) – und er lässt sich auf ein Gespräch ein.

Mit Johannes im Gespräch

Der Evangelist nimmt in dieser letzten Erzählung über das irdische Leben Jesu vieles aus seinen Jesusworten narrativ wieder auf und erklärt darin gewissermassen auch seinen kryptisch erscheinenden Prolog. Im Garten, wo Jesus oft mit seinen Getreuen war, hat er ein letztes Mal «unter uns gewohnt» (1,14), bevor er sie in der Welt zurücklässt, wobei er das Seine zu seiner Bitte an den Vater beiträgt, dass sie «vom Bösen bewahrt» werden (17,15): «Wenn ihr also mich sucht, lasst diese gehen» (18,8). Das Wort an Petrus (13,36–38) wird fast schon penibel erfüllt, denn nicht nur der Hahn kräht nach der dritten Verleugnung. Wie vorausgesagt, kann Petrus Jesus «jetzt nicht (aber später) folgen» (13,36), denn er muss am Tor warten, bis der andere Jünger ihm Einlass verschafft.

In Jesu Erwiderung an Hannas zeigt sich sein gleichzeitig universelles und partikulares Sendungsverständnis – «Ich habe öffentlich zur Welt gesprochen; ich habe immer in Synagogen und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen; im Geheimen habe ich nichts gesprochen. (18,20)» – wie es im Prolog vorweg gedeutet ist: Er war in der Welt …, er kam in sein Eigentum (1,10 f.).

Der Textabschnitt über Jesus vor Pilatus ist von der Unruhe des Pilatus geprägt. Er geht zu «den Juden» hinaus (18,29), geht wieder hinein (18,33), geht wieder hinaus (18,38), geht noch einmal hinaus (19,4), geht erneut hinein (19,9), lässt schliesslich Jesus hinausführen und setzt sich selbst auf den Richterstuhl, der offensichtlich ebenfalls draussen ist. Zwischen diesen Gängen liegen Gespräche mit den anklagenden Juden und mit Jesus, die Pilatus helfen sollen, eine für ihn möglichst unverfängliche Entscheidung zu treffen. Die Motivation «der Juden» wird – auf Grund der Wirkungsgeschichte muss betont werden: leider – hier nicht geklärt, ist aber in 11,48 zu finden: «Wenn wir nicht gegen ihn vorgehen, werden alle an ihn glauben; die Römer werden kommen und uns Land und Leute wegnehmen.» Sie haben weniger Angst vor dem eigenen Machtverlust, sondern mehr vor der zerstörerischen Macht Roms, das sich offenbar aus ihrer Sicht durch die Lehren Jesu provoziert fühlen könnte. Dass dem so ist, bestätigt Pilatus, indem er beharrlich darauf besteht, Jesus «den König der Juden» zu nennen, obwohl ihn die Hohenpriester als einen «Schlechtes Tuenden» an Pilatus ausliefern (18,30). Dennoch betont er dreimal, dass er keine Schuld bei Jesus finde, und vermittelt dadurch den Eindruck, dass er Jesus für sich als nicht ernst zu nehmend betrachtet, sondern dass dieser erst durch eine Gefolgschaft gefährlich würde. Indem er vor dem endgültigen Richterspruch plötzlich nicht mehr vom «König der Juden», sondern nunmehr von «Eurem König» spricht (19,15), zwingt er die Juden, Jesus nicht nur im Sinne der prophetischen Aussage des Kajafas – es ist besser, «wenn ein Mensch für das Volk stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde geht» (11,50) – «für das Volk» (11,52) zu opfern, sondern sich offiziell von ihm loszusagen und die Herrschaft Roms ausdrücklich anzuerkennen. Damit offenbart die Passion Jesu auch, wie begrenzt die Toleranz Roms gegenüber den unterworfenen Völkern ist, wenn sie ihren eigenen Weg wahren wollen. Wenn man nämlich die Diskussionen zwischen Pilatus und Jesus und zwischen Pilatus und «den Juden» auseinanderflicht, kommt die Geisselung und Misshandlung Jesu als unmittelbare Reaktion auf seine Aussage: «Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege» (18,37).

Pilatus erhält auf seine Frage: «Was ist Wahrheit» (18,38) keine Antwort, doch ist sie im Gebet Jesu an Gott schon gegeben: «Dein Wort ist Wahrheit» (17,17), das Wort des befreienden, sich zuwendenden Gottes, in dem Leben ist (Joh 1,3 f.).