Wir beraten

Götter, Menschen und Söhne   

Winfried Bader zum Evangelium am 4. Fastensonntag: Joh 3,14–21, SKZ 9/2012

 

Manche Sätze tauchen im liturgischen Vollzug oder auch in Gebotsformeln so oft und so selbstverständlich auf, dass man kaum mehr hinterfragt, woher sie denn eigentlich kommen und was sie in ihrem ursprünglichen Kontext bedeuten. Es ist nicht nur das Kreuz, das auf diese Weise vom Marterpfahl zum Thron geworden ist, der Menschensohn ist uns wie ein Nickname geläufig, und dass Gott die Welt liebt, dass er dafür seinen Sohn gibt, ist Selbstverständlichkeit und nicht mehr eine faszinierende Ungeheuerlichkeit.

Was steckt ursprünglichen hinter diesen Gedanken und Bildern?

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Der Leseabschnitt des Sonntagsevangeliums ist der Schluss des Nachtgesprächs, das Jesus mit Nikodemus führte. Es ist ein längerer Gesprächsbeitrag von Jesus an Nikodemus, den er zu Beginn explizit als den «Lehrer Israels» (Joh 3,10) anspricht. Da gibt uns der Text selbst für seine Auslegung die Hermeneutik vor. Es ist die Hermeneutik, der sich diese wöchentliche Auslegungsreihe auch verpflichtet fühlt: Den Evangelientext mit dem Verständnishintergrund eines «Lehrers Israels» zu lesen, also mit den Erfahrungen und Überlegungen, die aus den Heiligen Schriften von Jesus und Israel, dem heute Ersten Testament der Bibel, stammen. Sie geben uns die Denkkategorien vor, mit der wir den Evangelientext verstehen können.

Der «Lehrer Israels» hört bei dem kurzen Zitat aus Numeri (Num 21,7–9) die ganze Erzählung: Israel hat gesündigt, und zur Strafe kommen Giftschlangen (Seraphen). Um vor den tödlichen Bissen dieser Schlangen gerettet zu werden, betet Mose für das Volk zu Gott und erhält den Auftrag, eine bronzene Schlange an einer Fahnenstange aufzuhängen, damit die Gebissenen sie ansehen und am Leben bleiben. Gott nimmt die Strafe nicht einfach durch einen Befehl weg, sondern er fordert vom Volk eine aktive Beteiligung, das Anblicken der Schlange.

Wie ist dieses Bild der Schlange im Munde Jesu – zum ersten Mal hier im Johannesevangelium (Joh 3,14) verwendet, später bei den Kirchenvätern dann oft zitiert und typologisch ausgelegt – als Vergleich mit dem Menschensohn (Joh 3,14b) zu verstehen? Ein erster Vergleichspunkt ist die rettende Kraft, die von dem Anblick der Schlange ausgeht. Wer den Menschensohn sieht, sieht die rettende Macht. Es ist aber bei diesem Anblicken der Schlange kein Mirakel gemeint. Wir lesen dazu im Weisheitsbuch: «Wer sich dorthin wandte, wurde nicht durch das gerettet, was er anschaute, sondern durch dich, den Retter aller» (Weish 16,7).

Das führt zum zweiten Vergleichspunkt: Gott will sein Volk in der Wüste retten; er ist der Beherrscher der Szene. Das wird – so das Johannesevangelium – beim Menschensohn auch so sein.

Der wichtigste Vergleichspunkt ist die Erhöhung der Schlange und des Menschensohns. Von Erhöhung ist im Numeritext nicht die Rede. Man muss sich die Szene dort vorstellen und merken, dass mit der Fahnenstange und dem Anblicken eine erhöhte Position der Schlange impliziert ist. Auch Christus wird erhöht, damit alle, die zu ihm gläubig aufblicken, das Heil und das Leben erlangen. Johannes versteht unter dem erhöhten den verherrlichten Herrn, der identisch ist mit dem historisch am Kreuz erhöhten Herrn – eine wichtige Identität.

Wir haben es gerade schon erwähnt, die – 13-mal kommt sie im Joahnnesevangelium vor – Bezeichnung «Menschensohn» (Joh 3,14b). Was hört hier der «Lehrer Israels»? Denkt er hier an den Propheten Ezechiel, der von Gott stets (93-mal) als «Menschensohn» angesprochen wird? Ezechiel ist der Prophet, der sich um das Volk Israel in einer besonderen Notlage kümmert, dem Volk Mut zuspricht und eine Perspektive gibt, sodass selbst tote Gebeine wieder Fleisch bekommen und einen lebendigen Geist (Ez 27,1–14).

Oder denkt er an Daniel, wo der Menschensohn aus dem Himmel kommt, um die Herrschaft zu übernehmen, und über den gesagt wird: «Sein Reich geht niemals unter» (Dan 7,13–14)?

Oder denkt er an den Psalm: «Deine Hand schütze den Mann zu deiner Rechten, den Menschensohn, den du für dich gross und stark gemacht» (Ps 80,18). Hier folgt dann im nächsten Vers die Bitte um das Leben, das in der Rede Jesu auch eine wichtige Rolle spielt. «Erhalt uns am Leben!» (Ps 80,19).

Oder steckt mit Psalm 8 hinter dem Ausdruck die Idee des Staunens über die Zuwendung Gottes zu den Menschen: «Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, der Menschensohn, dass du dich seiner annimmst?» (Ps 8,5).

All diese Konnotationen schwingen mit. Für das Johannesevangelium ist (nach Auswertung der 13 Belege) der Messias der Lebensspender und Richter, der diese Funktion schon jetzt ausübt und alleine ausüben kann, weil er der vom Himmel herabgestiegene und dorthin wieder aufsteigende Menschensohn ist.

«Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab» (Joh 3,16). Mit diesem Satz ist der uns so geläufige Kern der christlichen Erlösungstheologie angesprochen. Hat der «Lehrer Israels» auch für diesen Satz eine Folie, die ihm hilft, ihn zu verstehen? «Mein Sohn bist du» – das sagt Psalm 2,7 und ist für die Vorstellung eines Gottessohns wohl der wichtigste Beleg für die neutestamentlichen Schriftsteller.

Der Zusammenhang von Sohn und Gottesliebe findet sich aber bei Hosea und ist wohl der älteste Beleg für diese Vorstellung. «Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb, ich rief meinen Sohn aus Ägypten» (Hos 11,1). Und weiter: «Mit menschlichen Fesseln zog ich sie an mich, mit den Ketten der Liebe. Ich war da für sie wie die (Mütter), die den Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen» (Hos 11,4). Der Sohn steht bei Hosea für das Volk Israel. Gott handelt an dem Volk in grosser Mutterliebe. Das ist die Liebe zur Welt, von der Jesus spricht. Der «Lehrer Israels» hört damit die Hoseastelle auch weiter: «Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, (…). Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mann, der Heilige in deiner Mitte. Darum komme ich nicht in der Hitze des Zorns» (Hos 11,8–9). Dieses Verständnis des «Lehrers Israels» greift Jesus auf und führt so im nächsten Satz weiter: «nicht damit er die Welt richtet, sondern dass sie durch den Sohn gerettet wird» (Joh 3,17).

Mit Johannes im Gespräch

Johannes verkündet uns: Der ewige, wesentlich transzendente Gott hat sich persönlich engagiert mit der winzigen Welt und ihren erbärmlichen Menschen. Diese Botschaft, die sich neu und auf ungewöhnliche Weise in dem einen Menschen Jesus, dem Sohn Gottes, zuspitzt, wurde schon gesagt in den Schriften Israels und gedacht in vielen Überlegungen zum Verhältnis Gottes zur Welt.

Dieses Verhältnis lässt sich in einem Satz zusammenfassen: «Gott ist Liebe» (1 Joh 4,8).