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Glaube als Erinnerung   

Dieter Bauer zum Evangelium am 3. Fastensonntag: Joh 2,13–25, SKZ 7-8/2012

 

Die johanneische Erzählung von der sogenannten «Tempelreinigung» ist eine Erzählung voller Missverständnisse. Das ist zwar im Johannesevangelium nicht aussergewöhnlich, andererseits ist hier aber auch die Auslegung massiv von solchen Missverständnissen belastet. Die meisten Hörerinnen und Hörer des Evangeliums stellen sich z. B. einen heruntergekommenen jüdischen Wallfahrtsbetrieb vor, der von Jesus endlich «ausgemistet» wird. Dass Jesu Tempelkritik dann auch oft noch antijüdisch verstanden wird, macht es noch schlimmer.

Hinweis: Ausnahmsweise möchte ich hier eine Kürzung des Evangelientextes vorschlagen. Der Text Joh 2,13–22 stellt eine zweiteilige und zusammenhängende Handlung am Tempel dar, während die Verse 23–25 bereits das folgende Nachtgespräch mit Nikodemus einleiten und deshalb eher weggelassen werden sollten.

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Wenn der historische Jesus Kritik am Tempel geäussert hat, dann tat er das als Jude in einer innerjüdischen Auseinandersetzung. Diese war zu seiner Zeit höchst virulent. Die Tempelkritik der Qumranleute war da z. B. noch wesentlich massiver. Allerdings war solche Kritik nichts Neues, sondern war höchst schriftgemäss und konnte sich auf die alttestamentlichen Propheten berufen. Diese hatten Missstände am Tempel – nicht den Tempel selbst! – zu allen Zeiten scharf kritisiert. Auch nach dem Johannesevangelium spielt Jesus auf einen solchen Propheten an: «Kein Händler wird an jenem Tag mehr im Haus des Herrn der Heere sein» (Sach 14,21; vgl. Joh 2,16).

Was aber ist so schlimm an diesen Händlern, die – im «Vorhof der Heiden», also gar nicht im heiligen Bezirk! – den Tempelkult ermöglichten, indem sie Opfertiere verkauften und das Geld umtauschten? Was lässt Jesus in solchen «Eifer» geraten, dass er selbst handgreiflich wird und mit einer Peitsche die Tiere (nicht die Menschen, wie die Einheitsübersetzung suggeriert!) eigenhändig hinaustreibt?

Jesu Eifer (gr. zelos), der den zeitgenössischen Zeloten den Namen gab, steht ganz in der Tradition der makkabäischen Erhebung, der es auch schon um eine «Reinigung des Tempels» ging. Und er steht in der Tradition des Elija («Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den Herrn, den Gott der Heere, eingetreten»; 1 Kön 19,10), der mit Entschiedenheit für die Alleinverehrung seines Gottes eintrat. Seine Jünger – und damit die Johannesgemeinde – «erinnert» Jesu Verhalten an ein Psalmwort: «der Eifer für dein Haus hat mich verzehrt» (Ps 69,10).

Das Stichwort, das den Ausschlag gibt für Jesu Problem mit dem Tempel, steht bereits im ersten Vers unserer Perikope: «Das Pascha der ‹Juden› war nahe …». Das jährliche Paschafest wurde gefeiert als Erinnerung an das Grunddatum jüdischer Geschichte, der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägyptens: «Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus» (Ex 20,1; zitiert im Text der heutigen alttestamentlichen Lesung). Gar nie ging es bei diesem Fest um historische Erinnerung, sondern stets um «gefährliche Erinnerung» (J.  B. Metz), die festhalten und proklamieren sollte, dass das jüdische Volk zur Freiheit und nicht zur Knechtschaft berufen sei. Das Paschafest erinnerte jedes Jahr neu daran, wachsam zu sein, wenn sich neue Pharaonen zu erheben beginnen.

Dies aber war zur Zeit Jesu längst geschehen: Herodes der Grosse, der im Matthäusevangelium nicht zufällig mit Zügen des kindermordenden Pharao ausgestattet worden war (Mt 2,16–18; vgl. Ex 1,22), hatte den Jerusalemer Tempel zu einem der grössten des römischen Reiches ausbauen lassen. Der Tempel war nicht nur zu einem internationalen Wallfahrtszentrum geworden, sondern war gleichzeitig eine Grossbank. Das war er zwar schon früher gewesen (2 Makk 3,10 f.), aber inzwischen war es unübersehbar, dass auch Jerusalem eine «Stadt der Händler» geworden war wie das von den Propheten scharf kritisierte Tyrus oder Sidon (Jes 23,1–18; Ez 27,1–36).

Wenn aber der Tempel in Jerusalem nicht mehr unterscheidbar war von allen anderen Tempeln der «heidnischen» Welt, dann konnte er auch nicht mehr zur Erlösung und Befreiung des Volkes beitragen. Für diejenigen, die das sehen konnten, war die Zerstörung des Tempels 70 n.  Chr. dann nicht nur keine Katastrophe, sondern einfach konsequent. Der Tempel war für sie längst abgelöst. Durch den Messias, der «von den Toten aufgerichtet worden» ist (2,22). Jesus, der am «Rüsttag des Paschafestes» (Joh 19,14) zusammen mit den Paschalämmern starb, erwirkte dadurch die Rettung (3,17).

Damit bestätigte sich für die Nachfolgegemeinde nicht nur Jesu Wort, an das sie sich «erinnerten», sondern vor allem auch die «Schrift» (2,17.22), der sie nun Glauben schenken konnten. Noch einmal: Wie beim Pascha geht es hier nicht um historische Erinnerung oder Zukunftsvorhersage, sondern um die «gefährliche Erinnerung» an den Gott, der schon immer die Freiheit seines Volkes von jeder Form von Unterdrückung wollte, sei sie politischer oder ökonomischer Art.

Mit Johannes im Gespräch

Anders als in den drei ersten Evangelien erzählt das Johannesevangelium schon ganz am Anfang von einem Aufenthalt Jesu in Jerusalem (2,13 ff.). Jesu Tempelaktion, die bei den Synoptikern zur Passionsgeschichte hinführt, steht hier bereits am Anfang seines Wirkens. Jerusalem, das Pascha und der Tempel umschliessen fast die gesamte Jesusgeschichte des Johannesevangeliums wie ein Rahmen. Warum ist das dem Evangelisten so wichtig?

Für die Johannesgemeinde war klar: Der wahre Tempel Gottes ist der Leib Jesu Christi. Die Botschaft des Johannesprologs, dass «das Wort Fleisch geworden» sei und «unter den Menschen wohnt» (1,14), wird so entfaltet. Der Leib Jesu Christi ist nun der einzig wahre Tempel. Dieses «Zeichen» (2,18) aber werden die «Juden» gar nicht und die Jünger Jesu erst nach seiner Auferstehung verstehen.

Festgehalten wird solcher Glaube im Johannesevangelium durch eigene Deutungen, die stets etwas mit «Erinnerung» zu tun haben und die sich jeweils am Ende der beiden Erzählabschnitte finden, aus denen unsere Perikope besteht: «Seine Jünger erinnerten sich an das Wort der Schrift: Der Eifer für dein Haus verzehrt mich», und: «Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.» (2,17.22) Diese johanneischen «Fussnoten» (W. Loader) halten fest, was im Grunde genommen alle anderen Evangelien auf ihre je eigene Art und Weise ebenfalls sagen wollten: Erst im Licht von Ostern lässt sich der irdische Jesus wirklich verstehen. Als Schlüssel für dieses Verständnis braucht es allerdings die Schriften (vgl. Lk 24,27) und – speziell im Johannesevangelium! – die Worte Jesu selbst (2,22 u. ö.).

 

Lesetipp:

Ton Veerkamp: Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums; 1. Teil: Johannes 1,1–10,21, in: Texte und Kontexte Nr. 109–111 (1–3/2006), 51–53.

Joachim Kügler: «Das Haus meines Vaters». Die sogenannte «Tempelreinigung», in: Bibel heute 187 (3/2011), 19 f.