Wir beraten

Jesus in der Wüste   

Hans Rapp zum Evangelium am 1. Fastensonntag: Mk 1,12–15, SKZ 6/2012

 

Am Sonntag des heutigen Evangeliums beginnt die Fastenzeit. Während vierzig Tagen werden sich viele Gläubige und weniger Gläubige im Verzichten üben. Weniger essen, kein Alkohol, Fastenwochen, und was immer der spirituelle Zeitgeist auf dem Programm hat. Dazu passt das heutige Evangelium scheinbar sehr gut. Jesus zieht sich für vierzig Tage in die Wüste zurück. Wieder einmal können wir uns unter Berufung auf die Praxis Jesu auf der Höhe des Zeitgeistes fühlen. Eine genauere Lektüre des Textes – und vor allem seiner Lücken – sollte aber zur Vorsicht gemahnen. Denn von Fasten selbst spricht der Text – im Gegensatz zu Matthäus und Lukas – ja gar nicht und schon gar nicht von einer freiwilligen Auszeit Jesu, in der er Kraft für seine künftigen Projekte gesammelt hätte. Die vierzig Tage Jesu in der Wüste sind durch die Versuchung geprägt.

«Wie es in den Schriften geschrieben steht»

Das Evangelium beginnt mit dem Wort «euthýs», sogleich. Es verweist auf etwas unmittelbar Vorgehendes. Die ersten 15 Verse gehören eng zusammen und sollten nicht aufgelöst werden. Darauf weist die Verwendung des Worts «Evangelium» hin. Es kommt in Mk 1,1–15 drei Mal vor. In Vers  1 ist es Teil des Titels: «Anfang des Evangeliums Jesu Christi». In Vers 14 fasst es das zusammen, was Jesus nach der Auslieferung Johannes’ in Galiläa tut: «Er verkündete das Evangelium Gottes.» Der Abschnitt endet in Vers 15 mit dem Wort «Evangelium». Das Wörtchen «euthýs» hat einen konkreten Bezugspunkt. Es ist die Taufe Jesu. Wie in der Tauferzählung ist auch in Mk 1,12 der «Geist» handelndes Subjekt. In der Tauferzählung sah Jesus den Geist herabkommen: «Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden» (Mk 1,10 f.). Es ist dieser Geist, der Jesus «sofort» nach seiner Taufe in die Wüste vertreibt, wo er für vierzig Tage bleibt und wo ihn der «Satan» in Versuchung bringt. Markus verwendet als Verb «ekballein». Dieses Verb taucht im Markusevangelium auch im Zusammenhang mit den Dämonenaustreibungen Jesu auf (Mk 3,15.22.23;7,26). Es steht aber z. B. auch für die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (Mk 11,15). Wie Jesus die Dämonen vertreibt, vertreibt der Geist Jesus in die Wüste. Er wird in die Wüste vertrieben, wo er vierzig Tage lang bleiben wird. Markus erzählt nicht, womit der Satan Jesus in Versuchung führt. Das werden Matthäus und Lukas nachholen. Wir erfahren einzig, dass Jesus unter den Tieren gelebt hat und dass Engel ihm dienten.

Wenn Jesus vierzig Tage in der Wüste bleibt und versucht wird, ruft das bei den Leserinnen und Lesern ebenfalls Assoziationen mit der Zeit Israels in der Wüste hervor. Vierzig Jahre dauerte es, bis die Nachkommen des Volks Israel das verheissene Land betreten und in Besitz nehmen konnten. Im Buch Deuteronomium wird diese Zeit als eine Zeit der Prüfung bzw. der Versuchung gesehen: «Du sollst an den ganzen Weg denken, den der Herr, dein Gott, dich während dieser vierzig Jahre in der Wüste geführt hat, um dich gefügig zu machen und dich zu prüfen. Er wollte erkennen, wie du dich entscheiden würdest: ob du auf seine Gebote achtest oder nicht» (Dtn 8,2). Der Vers verwendet das Verb «ekpeirazo» – es ist die selbe Wurzel wie im Markusevangelium: in Versuchung führen, prüfen. Jesus geht somit den Weg des Volks Gottes in der Wüste. Die Zeitspanne von vierzig Tagen verweist auch auf die vierzig Tage, an denen Mose auf dem Gottesberg war. «Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg hinauf. Vierzig Tage und vierzig Nächte blieb Mose auf dem Berg» (Ex 24,8). Mose wird vom Gottesberg her die Gesetzestafeln mitbringen, die den weiteren Weg Israels prägen werden. Jesus bringt aus den vierzig Tagen der Wüste seine Botschaft mit: das Evangelium, die frohe Botschaft vom Reich Gottes. «Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!» (Mk 1,14 f.). Das Evangelium Jesu hat mit der Erfahrung der Anwesenheit Gottes im Exodus, in der Rettung des Volks durch Gott zu tun.

Im Gespräch mit Markus

Der Begriff des Evangeliums hatte in der Zeitgeschichte von Markus, rund um das Jahr 70, in der römischen Welt eine ganz bestimmte Bedeutung. Es verwies auf «gute Nachrichten» aus dem römischen Kaiserhaus wie Thronbesteigungen, Geburten von Erben oder militärische Erfolge. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Entstehung des Markusevangeliums liegt die «gute Nachricht» vom Herrschaftsantritt des Kaisers Vespasian. Er hatte die römischen Legionen befehligt, die 66–70 den jüdischen Aufstand blutigst niederschlugen. Diese Legionen bildeten seine Machtbasis und sicherten ihm nach dem chaotischen und unsicheren «Dreikaiserjahr» 68/69 n.  Chr. den Kaiserthron. Markus setzt diesen blutigen «guten» Nachrichten eine andere gegenüber. Wenn Markus seinen Text und gleichzeitig den Kern dessen, was er erzählt – Jesu Botschaft –, mit Evangelium benennt, greift er zurück auf ein anderes Evangelium, das ca. 500 Jahre früher durch einen Schriftsteller verkündet wurde, der sich in die Linie des Propheten Jesaja gestellt hat. Der Text, den wir heute Deuterojesaja nennen, bringt Israel eine frohe Botschaft: «Steig auf einen hohen Berg, Zion, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme mit Macht, Jerusalem, du Botin der Freude! Erheb deine Stimme, fürchte dich nicht! Sag den Städten in Juda: Seht, da ist euer Gott» (Jes 40,9). Das Jesajabuch spricht von der Botin Zion und der Botin Jerusalem (mevasseret Sion/Jiruschalaijm). Die Botschaft lautet: Gott ist gekommen, Gott ist da. Zweimal verwendet dieser Vers den Ausdruck, den die Septuaginta mit «euangelizomai» übersetzt. Diese frohe Botschaft im Jesajabuch verband sich mit dem Siegeszug des persischen Königs Kyros gegen das Neubabylonische Reich, das im Jahr 587 Jerusalem zerstört und die judäische Elite in das Exil geführt hatte. Der Perserkönig und seine Nachfolger ermöglichten der jüdischen Exilgemeinde in Babylon die Rückkehr nach Jerusalem und den Wiederaufbau des Tempels. Der anonyme Verfasser von Jesaja 40–55 ging sogar so weit, vom siegreichen Kyros als dem Messias, dem Gesalbten, zu sprechen. Diese Hoffnung verbindet der Evangelist Markus definitiv nicht mehr mit dem blutigen Evangelium des römischen Feldherrn Vespasian. Er bindet sie zurück auf die jüdische Erfahrung des Exodus, der Herausführung Israels aus der Sklaverei und dem Exil. Die Versuchung Israels in der Wüste war das Verlangen nach der Sicherheit Ägyptens. Die Versuchung Deuterojesajas könnte es gewesen sein, Heilshoffnungen mit einem siegreichen Politiker zu verbinden. Womit immer Satan Jesus bei Markus versucht haben mag – herausgekommen ist die Predigt Jesu, dass Gott zum Greifen nahe ist, dass aber nur das Vertrauen auf diesen Gott und die Nachfolge Jesu diese Welt zu heilen vermag.