Wir beraten

Das Böse in der Welt und wir   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 4. Sonntag im Jahreskreis: Mk 1,21–28, SKZ 1-2/2012

 

Unsere Passage steht im Markusevangelium an einer entscheidenden Stelle: Nach der Taufe im Jordan durch Johannes (Mk 1,1–11), der Versuchung durch den Satan (bei Markus «Geist» genannt, siehe Mk 1,12–13) sowie der Berufung der ersten Jünger (Mk 1,16–20) beginnt mit unserem Text ein neues Stadium in Jesu Auftreten: Die Predigt in der Synagoge von Kafarnaum sowie die Heilung des Besessenen markieren den Beginn seines öffentlichen Wirkens. Durch diese Taten verbreitet sich der Ruf Jesu in ganz Galiläa (Mk 1,28). Warum sind es aber gerade diese Taten, die Heilung eines von einem «unreinen Geist» besessenen Mannes sowie die Predigt in der Synagoge, die Jesu Heraustreten in die Öffentlichkeit markieren? Was ist Besonderes an ihnen, gerade angesichts der zahlreichen Heilungen Jesu?

«… was in den Schriften geschrieben steht»

Unser Text greift die Frage nach dem Umgang des Menschen mit dem Bösen und dem Schlechten in der Welt auf. Diese Frage wird in beiden Teilen der Bibel immer wieder von verschiedenen Gesichtspunkten aus angegangen: Bereits in den ersten Kapiteln der Genesis wird mit der Erzählung vom Sündenfall eine Erklärung für das Böse gesucht. In Genesis 3 kommt dem Menschen eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung des Bösen und Schlechten in der Welt zu, da er sich frei entscheiden kann. In weiteren Büchern – etwa dem Buche Hiob – nimmt der Mensch eine weit weniger bestimmende Rolle ein. Andere Passagen, die die Frage nach dem Bösen nicht direkt ansprechen, befassen sich dennoch implizit damit: Die zahlreichen ethischen Vorschriften der Bibel sollen dem Menschen den Weg in einer Welt weisen, die nicht nur gut ist. Auch Markus beschäftigt sich in der vorliegenden Passage mit dem Umgang des Bösen durch den Menschen.

Mit dem «unreinen Geist» ist wohl eine Art Dämon gemeint. Vor der Entwicklung der modernen Medizin wurden Krankheiten in zahlreichen Kulturkreisen – so auch im Vorderen Orient zur Zeit Jesu – auf das Wirken von Dämonen zurückgeführt. Keinesfalls ist damit aber eine Herabsetzung des Kranken selber gemeint!

In der hebräischen Bibel werden Dämonen nur an wenigen Stellen erwähnt: In Dtn 32,17 und Ps 106,37 sind Dämonen eine Art Konkurrenten zum Gott Israels, denen das Volk Opfer darbringt. In der ausserbiblischen Literatur begegnet dann aber– so etwa in den Henoch-Büchern – sowie im rabbinischen Schrifttum eine reich entwickelte Dämonologie.

Gemäss einer in der Genesis nur angedeuteten (siehe Gen 6,1–4), in der ausserbiblischen Henoch-Literatur jedoch ausgefalteten Legende kam das Böse in die Welt, indem sich die Engel mit den Töchtern der Menschen vereinigten. Aus dieser Verbindung gingen Riesen hervor, die wiederum die Dämonen hervorbrachten. Die Dämonen sind demnach eine Art Verbündete des Satans, sie schaden dem Menschen, indem sie Krankheiten und Unglück über ihn bringen. Diese Legende macht – anders als die Erzählung vom Sündenfall in der hebräischen Bibel – in erster Linie aussermenschliche Kräfte für das Böse in der Welt verantwortlich. In einer von Dämonen bestimmten Welt kommt dem Menschen nur noch wenig Gestaltungskraft und Eigenverantwortung zu.

Der Glaube an Dämonen war – und ist teilweise bis heute noch – nicht nur im Judentum, sondern auch im Christentum und Islam weit verbreitet. Die jüdische Tradition kennt verschiedene Persönlichkeiten, die Macht über die Dämonen hatten, so etwa König Salomo oder die rabbinischen Gelehrten Hillel und Rabban Yochanan Ben Zakkai.

In dieser Ideenwelt bewegt sich auch der Evangelist Markus, wenn er von einem «Dialog» zwischen einem Dämon, dem «unreinen Geist», der den Mann heimsucht, und Jesus berichtet: Der Geist äussert seine Befürchtung, dass Jesus ihn und seine Artgenossen vernichten wird, da er «der Heilige Gottes» sei. Darauf befiehlt Jesus dem Dämon, den besessenen Mann zu verlassen, was dieser auch tut.

Der «Heilige Gottes» bildet wohl eine Art Gegensatz zum «unreinen Geist». Was ist damit aber genau gemeint? Die Bezeichnung erinnert an den Propheten Elischa, der in 2 Reg 4,9 als «heiliger Mann Gottes» bezeichnet wird. Der Satz des Geistes weckt aber auch Assoziationen an die Worte der Witwe aus Sarepta an Elia: «Was willst du von mir, du Mann Gottes? Du bist zu mir gekommen, dass meiner Sünde gedacht und mein Sohn getötet würde» (1 Reg 17,18). Jesus steht dadurch in der Tradition der Propheten. Die Lesung aus der hebräischen Bibel zu unserem Evangelium, Dtn 18, 15–20, weist in dieselbe Richtung. In der entsprechenden Passage aus dem Deuteronomium geht es um einen Propheten, den Gott in der Nachfolge von Moses für das Volk Israel erwecken wird: «Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen» (Dtn 18,15).

Auch der Messias trägt in der jüdischen Tradition prophetische Züge. Der Titel «Heiliger Gottes» spielt damit auf Jesu Rolle am Ende der Zeiten an, die aber bereits jetzt sichtbar wird: Dem Bösen kommt nur eine begrenzte Macht zu. Am Ende der Zeiten wird das Gute endgültig über das Böse siegen. Dies hat der «unreine Geist» sehr wohl begriffen und fürchtet daher um sein Fortbestehen.

Durch seine Macht über das Böse erhält Jesu Wirken in der Synagoge von Kafarnaum kosmische Dimensionen: Bereits jetzt hat er die Macht, den bösen Geist zu vertreiben. Am Ende wird das Böse mit seiner Hilfe aber endgültig überwältigt werden. Bereits in seinem Bericht über das erste öffentliche Auftreten Jesu weist Markus dadurch auf dessen Rolle im endzeitlichen Geschehen hin.

Mit Markus im Gespräch

Auffällig ist, dass der Mensch, von dem der «unreine Geist» Besitz ergriffen hat, in unserer Passage überhaupt keine Rolle spielt: Er ist das passive Gefäss für den Geist, der mit Jesus spricht. Der Dialog und die Handlung finden ausschliesslich zwischen dem Dämon und Jesus statt. Anders als bei anderen Heilungsgeschichten erfahren wir auch nichts von der Reaktion des Geheilten: Er bleibt stumm.

Diese Passivität wirkt beinahe provozierend: Könnte es sein, dass diese «weisse Stelle» in unserem Text dazu einlädt, gefüllt zu werden?

Tatsächlich enthält unser Text feine Hinweise darauf, dass Markus uns keinen Determinismus lehren will, in dem bereits alles bestimmt ist und der Mensch bloss eine Marionette des Schicksals ist. Die Bezeichnung «Heiliger Gottes» weist auf die Propheten, die gerade den Menschen die Folgen ihrer Taten aufgezeigt und diese zu Verantwortung aufgerufen haben. Die Lesung aus Deuteronomium stellt Jesus in die Tradition des Moses, des Gesetzgebers par excellence. Markus warnt daher – trotz einer auf den ersten Blick fatalistisch-dualistischen Weltsicht – davor, das Leben in einem solchen fatalistischen Sinne zu verstehen. Sein Text lädt den Menschen dazu ein, dem stummen Mann aus Mk 1,21–28 ein Gesicht zu geben, ihn von einem passiven Gefäss zu einem aktiv Handelnden zu machen.