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Dieter Bauer zum Evangelium am 2. Sonntag im Jahreskreis: Joh 1,35–42, SKZ 51-52/2011

 

Zu Beginn des Jahreskreises wird in unseren Kirchen jeweils aus dem Anfang des Johannesevangeliums gelesen. Im Lesejahr B trifft es die «Jüngerberufungen» Jesu, die in diesem Evangelium sehr speziell sind:

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Johannes der Täufer hatte Jünger. Das überliefern übereinstimmend sämtliche Evangelien. Und historisch gesehen gehörte auch Jesus von Nazaret anfangs zu ihnen. Dass er sich selbst der Johannestaufe unterzog, spricht dafür ebenso wie die Tatsache, dass er später als Rabbi die Institution der Jüngerschaft weiterführen wird.

Interessanterweise gibt es im gesamten Alten Testament keinen einzigen Beleg für solche «Jüngerschaft». Der Begriff (gr. mathetes; hebr. talmid) kommt dort schlicht nicht vor, während im Neuen Testament neben den Johannes- und Jesusjüngern auch Pharisäerjünger genannt werden (Mk 2,18 u. ö.). Am ehesten darf man für das Alte Testament noch an die «Prophetenjünger» von Elija und Elischa denken. Diese werden allerdings nie «Jünger» genannt, sondern «Prophetensöhne». Und erst Flavius Josephus wird Elischa – etwa zeitgleich mit dem Johannesevangelium – als «Jünger» des Elija bezeichnen (Ant. 8,354).

Es ist immerhin davon auszugehen, dass sich nicht nur Johannes der Täufer in der Tradition Elijas und Elischas verstanden hat, sondern auch Jesus. Die Evangelien lassen dies auf Schritt und Tritt durchscheinen. Allerdings geht es hier nicht mehr um eine «Prophetenschule» des 9. Jahrhunderts v.  Chr., sondern längst um die hellenisierte Version «elijanischer Nachfolge», die auch Elemente der griechischen Philosophie aufgenommen hat (so jedenfalls Bernhard Lang).

Der elijanische Prophet Johannes der Täufer, der im Übrigen im Johannesevangelium beide Bezeichnungen für sich ablehnt (Joh 1,19 ff.), wird auf Jesus aufmerksam. Er schaut genau hin (griechisch verstärkt: em-blepein): «Er richtete den Blick auf den umherwandelnden Jesus» (Joh 1,35). Jesus «wandelt umher» (griechisch: peripatein) wie Gott im Paradiesgarten (Gen 3,8)? Oder wie die griechischen Peripatetiker in ihren Wandelhallen? Oder geht er doch eher seinen Weg der Tora, also das, was die Juden Halacha nennen?

Doch was bringt zwei der Johannesjünger nun dazu, ihm auf diesem Weg zu folgen? Es ist kein Ruf Jesu, sondern ein Wort des Täufers: «Seht, das Lamm Gottes!» (1,36). Er sagt das nicht zum ersten Mal. In ausführlicherer Art und Weise hat er bereits am Vortag so von Jesus gesprochen «Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt» (1,29).

Diese symbolische Rede vom «Lamm», das die Sünde der Welt hinwegnimmt, spielt auf den Gottesknecht des Jesajabuches an: «Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf. (…) er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein» (Jes 53,7.12). Das lässt für die Jünger des Gottesknechtes nichts Gutes erwarten. Trotzdem folgen zwei von den Johannesjüngern Jesus. Und dieser, als er «sah, dass sie ihm folgten», «wandte sich um» (Joh 1,37 f.).

Hinter diesem «Umwenden» (gr. strephein) verbirgt sich mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Es geht um ein «Umkehren» (hebr. schub), wie es auch von Gott im Alten Testament immer wieder beschrieben wird (z. B. Hos  11,8 f.). Die «Umkehr Gottes» ermöglicht die Umkehr Israels. Und das Fragen Jesu «Was sucht ihr?» (nicht: Was wollt ihr?) ermöglicht den beiden Jüngern von dem zu sprechen, was sie zuinnerst umtreibt.

Wir begegnen hier dem ersten Jesuswort im Johannesevangelium. «Was sucht ihr?», fragt Jesus die beiden Johannesjünger und damit alle Leserinnen und Leser des Johannesevangeliums. «Wo ist deine Bleibe?» (nicht: Wo wohnst du?), ist die Antwort der Johannesjünger. Sie sind auf der Suche nach einem Ort, an dem sie «bleiben» können, der ihre Unruhe stillt. Und sie vermuten offensichtlich, dass Jesus diese «Bleibe» schon gefunden hat. Für Israel ist dieser «Ort» Gott selbst: «Du wirst ihn finden, wenn du dich mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele um ihn bemühst» (Dtn 4,29). Jesus lädt sie ein zu finden: «Kommt und seht!» Und was sie finden, reicht ihnen, um zu «bleiben», zumindest für «jenen Tag» (Joh 1,39).

Mit Johannes im Gespräch

«Bleiben» ist ein Schlüsselwort des Johannesevangeliums und fällt an dieser Stelle noch gar nicht so sehr auf. Aber im weiteren Verlauf des Evangeliums wird es seine Bedeutung immer mehr entfalten (vgl. 6,56; 8,31; 15,4 ff.; 21,22). «Jünger» ist nur, wer «bleibt». Die beiden Johannesjünger, von denen nur einer («Andreas, der Bruder des Simon Petrus»; 1,40) namentlich vorgestellt wird, dürfen nun «bleiben» und müssen nicht mehr «suchen». Aber sie «finden» von nun an andere, wie vorher Jesus sie selber «gefunden» hat. Andreas «findet (nicht: trifft) seinen Bruder Simon und sagt zu ihm: Wir haben den Messias gefunden.» Und «er führt ihn zu Jesus» (1,41 f.). Auch Simon braucht nun nicht mehr zu suchen. Sein Bruder hat bereits vorgespurt und für ihn gefunden: den Messias.

Jesus blickt Simon sehr genau an (wieder: emblepein) und sagt: «Du sollst Kephas heissen. Kephas bedeutet: Fels» (1,42). Auch wenn Simon nicht der erstberufene Jünger ist, so ist er im Johannesevangelium trotzdem der erstgenannte, indem sein Bruder über ihn definiert wird (1,40). Er, Simon, und der ungenannte zweite Jünger, wahrscheinlich der «Lieblingsjünger», werden im Evangelium immer wieder in Konkurrenz zueinander treten. Der «Ehrenvorsitz» des Petrus bleibt gewahrt. Die Sympathien des Autors liegen aber beim «Lieblingsjünger».

Es gibt also offensichtlich sehr verschiedene Arten des Jüngerwerdens, des Jüngerseins und auch des Bleibens. Jesus sieht in Simon den «Felsen», der er nach Ausweis des Johannesevangeliums sicher nicht war. Die johanneische Passionsgeschichte schildert ihn geradezu als Gegenpol zum Täufer. Während Johannes «bekannte und nicht leugnete» (1,20), bekennt sich Petrus gerade nicht zu Jesus, sondern verleugnet ihn dreimal (18,15 ff.). Aber er ist bei Jesus «geblieben». Und er wird zum «Felsen» werden, wie die spätere Geschichte weisen wird! Die Antwort des Petrus auf Jesu dreimalige Frage «Liebst du mich?» (21,15–17) hebt die dreimalige Verleugnung auf.

«Suchen» und «finden» – so schildert das Johannesevangelium menschliche Existenz. Doch dahinter steht keine Automatik, wie bereits der Prophet Amos befürchtet hat: «Seht, es kommen Tage – Spruch Gottes, des Herrn –, da schicke ich den Hunger ins Land, nicht den Hunger nach Brot, nicht Durst nach Wasser, sondern nach einem Wort des Herrn. Dann wanken die Menschen von Meer zu Meer, sie ziehen von Norden nach Osten, um das Wort des Herrn zu suchen; doch sie finden es nicht» (Amos 8,11 f.).