Wir beraten

Maria Gottesmutter wird ihrer Geschichte beraubt   

Ursula Rapp zum Evangelium am Hochfest der Gottesmutter Maria: Lk 2,16–21, SKZ 50/2011

 

Einleitung

Dass Maria Gottesmutter ist, ist das älteste Dogma über diese Frau (431, Konzil von Ephesus). Der Evangelientext zum Fest erzählt nichts direkt von Mutterschaft, aber davon, dass Maria die Verkündigung der Hirtinnen und Hirten in ihrem Herzen bewegte. Es ist auch eine Mutterschaft über diese Messiasbotschaft.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Die Perikopenordnung zum Fest Maria Gottesmutter sieht als Evangelium Lk 2,16–21 vor. Diese Begrenzung des Textes ist kaum nachvollziehbar. Vom griechischen Text her ist eine Abgrenzung von V. 15 bis V. 20 näher liegend. V. 15 beginnt mit «und es begab sich», eine Formulierung, die etwas Neues beginnen lässt, und der Vers gibt auch den Beschluss des Hirtenvolkes bekannt, dass sie aufbrechen und das Neugeborene suchen wollten, nachdem ihnen der Engel die Geburt des Erlösers verkündet hatte (V. 9–14). V. 16 dagegen schliesst einfach an die begonnene Erzählung in V. 15 an.

Das Ende der Perikope, V. 21, beginnt nicht nur inhaltlich mit etwas Neuem, da steht auch eine neue Zeitangabe («Als sich acht Tage erfüllt hatten»). Damit beginnt eine neue Szene, die bis V. 24 reicht. Vom Erzählablauf her beginnt also in V. 21 etwas Neues, aber die Abgrenzung der Perikopenordnung bricht hier auch schon wieder ab. Es wäre deshalb sinnvoller, die Szene in V.  20 enden zu lassen oder sie bis V.  24 zu Ende zu erzählen. So aber bleibt ein eigenartiger Text ohne richtigen Anfang und ohne Abschluss zurück.

Das Wesentliche an dieser Vorbemerkung ist ihr theologischer Inhalt: Der Text endet mit der Beschneidung Jesu in V. 21. Aber Lukas erzählt quasi im selben Atemzug von Marias Reinigung im Tempel nach der Geburt des Kindes (V. 22–24), wie es die Tora in Lev 12 vorsieht. So wird zwar Jesu Bindung an die Lebensordnung der Tora sichtbar, aber die Bindung Marias an die gleiche Lebensordnung wird verschwiegen. Dazu möchte ich am Schluss noch etwas sagen. Zuerst wenden wir uns dem verbleibenden Text zu.

Lukas verwendet einige bedeutsame Formulierungen. So etwa das, was die Einheitsübersetzung in V. 17 mit «erzählen» (gnorizo) übersetzt. Die Hirten «erzählen», was ihnen «gesagt worden» war. Wörtlich übersetzt heisst das Verb «sie liessen wissen», und oft wird es auch mit «verkünden» (Neh 8,12) und «kundtun» (Ps 145,12) übersetzt. Wenn Gott das Subjekt ist, dann wird auch von «offenbaren» gesprochen (Ez 20,5). Das Wort kann in dieser Form also viele Arten der Mitteilung bedeuten. Wenn es sich aber um Botschaften aus dem göttlichen Bereich handelt, dann wird mit «kundtun», «wissen lassen» und «offenbaren» übersetzt. Auch hier fehlt uns der einleitende V.  15. Mit ihm würden wir nämlich gleich bemerken, dass es hier nicht einfach um das Erzählen von Ereignissen geht, sondern dass die Hirten und Hirtinnen wissen, dass «der Herr» ihnen etwas «verkünden liess». Dass Gott das Hirtenvolk hat «wissen lassen», ist nach Lukas dieselbe Tätigkeit, die die Hirtinnen und Hirten dann in Betlehem tun. Und das wissen diese Leute, denn sie sagen, dass sie das tun, was Gott getan hat: verkünden. Die Einheitsübersetzung weiss das nicht mehr. Die Hirtenleute verkünden Gottes Botschaft an Maria und Josef. Nicht die Weisen und die Engel, sondern die einfachen Hirtinnen und Hirten werden zu den weihnächtlichen Boten für die Gottesmutter. Lukas betont die Verkündigung durch die, von denen wir es nicht erwarten, auch in 7,22: «Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote erheben sich – Arme bringen frohe Botschaft!» Dass die Armen hier die Subjekte der Verkündigung sind, verschleiern fast alle Übersetzungen. Aber für Lukas scheint das wichtig zu sein: Das Evangelium kommt dort her, wo wir es nicht vermuten wollen. Das passt zur Geburtsgeschichte Jesu: Auch er kommt in einer menschlichen und gesellschaftlichen Situation zur Welt, die kaum schwieriger sein kann: Gott kommt dort, wo wir es nicht erwarten. Dass deshalb alle, die das hörten, staunten, kann gar nicht verwundern. Das liegt nicht nur an der unvermuteten Botschaft, sondern auch an ihren Überbringerinnen und Überbringern.

Was erfahren wir nun in dem geschrumpften Text über Maria? – Dass sie «all diese Worte bewahrte» und «in ihrem Herzen erwog». Mehr nicht. Sie bringt auch Jesus nicht zur Beschneidung. Wir erfahren über ihre Mutterschaft nichts, nur dass sie die Worte des Hirtenvolkes bewahrt und reflektiert. Maria Gottesmutter: die Bewahrerin und Denkerin der Hirtenworte. Auch in Luk 1,66 bewahren Menschen das, was sie gehört haben, im Herzen: Es sind die Nachbarn und die Leute im ganzen Bergland von Judäa, die die geheimnisvollen Verwandlungen des Zachäus miterleben, der nach seiner Verstummung ganz plötzlich zur Beschneidung seines Sohnes Johannes wieder sprechen kann.

Das Herz ist in der hebräischen Bibel nicht der Ort von Gefühlen, sondern des Denkens. Lukas bezieht sich stark auf die jüdische Bibel, aber er ist ohne Zweifel auch vom griechischen Denken seiner Zeit beeinflusst, und für dieses ist das Herz ein Emotionsort. Wahrscheinlich mischt sich das hier. Aber in den Bereich der Gefühle allein gehören dieses Wissen und diese Botschaft keinesfalls.

Und was ist die Botschaft? V.  10–12 teilen die Engel den Hirtenleuten mit, dass der Retter und Gesalbte der Menschen geboren ist und in einer Futterkrippe liegt. Nun sind es diese Schäferinnen und Schäfer, die Maria verkünden, dass ihr Sohn der Messias Gottes ist. Und Maria und die anderen glauben es. Das bewahrt sie in ihrem Herzen, denkt nach darüber, denkt daran.

Alles, was wir zum Fest der Gottesmutterschaft über Maria erfahren, ist, dass sie von den Hirtinnen und Hirten verkündet bekommt, dass ihr Neugeborenes der Messias ist, und dies bewahrt sie und bewegt es in ihrem Herzen. Will die Perikopenwahl damit sagen, dass ihre Mutterschaft im Bewahren und Nachdenken dieser Botschaft liegt? Ihre Mutterschaft ist ein ständiges Mit-dieser-Botschaft-Leben, ein Damit-fertig-Werden bis zum Tod ihres Kindes. Mutterschaft ist verstanden als sorgendes, bewahrendes Nachdenken über die Bedeutung des Lebens des Kindes. Sie muss das Kind auch in diese Bedeutung, in seinen eigenen Weg hineinlassen. Sie bewahrt nicht das Kind, sondern die Verkündigung. Da steckt viel Mut, viel Vertrauen. Dieses «ich bin die Sklavin des Ewigen» (Luk 1,38) aus der Verkündigungsszene wird hier wahr. Sie fügt sich in die Verkündigung, die nicht Ruhm und Ehre bedeutet, sondern mit Ablehnung, Schmerz und Scheitern verbunden ist. Auch in dieser Situation hat sie die Worte bewahrt, denn das ist – in der Deutung der Perikopenordnung – ihre Gottesmutterschaft.

Trotz dieses Gehaltes geht durch das Ende in V. 21 verloren, dass Maria die Tora erfüllte, indem sie sich nach der Geburt reinigte und im Tempel ihr Opfer brachte, wie es vorgeschrieben ist. Die Perikopenordnung verschleiert, dass Maria eine fromme Jüdin war und aus der Tora lebte. Sie macht Marias Lebenskontext unsichtbar. Aber auch dieser ist Teil dieser Frau, die Gottesmutter genannt wird. Sie ist Jüdin. Sie hält die Reinheitsvorschriften und ist eine jüdische Mutter. Lukas erzählt das nicht umsonst in dieser Verbindung. Dass sie den Hirtinnen und Hirten die göttliche Verkündigung glaubt, dass sie die Messianität Jesu in ihrem Herzen bewegt und dass sie fromme Jüdin ist, gehört zusammen. Maria versteht die Worte zuerst einfach als eine junge Jüdin, und als solche wird sie zur Gottesmutter, zur Bewahrerin des Glaubens und der Hoffnung an die Messianität Jesu. Wir dürfen als Christinnen und Christen nicht vergessen, dass Jesus Jude war, um ihn zu verstehen, und wenn wir zu Maria einen Zugang wollen, dürfen wir nicht vergessen, dass die Gottesmutter Jüdin war, nicht Christin.

Mit Lukas im Gespräch

Die Bewahrerin der Worte, die fromme junge jüdische Frau, deren Gemeinschaft das Hirtenvolk, die Dahergelaufenen, ein frommer Mann und die Stalltiere sind. Lukas erzählt wieder einmal von der Freudenbotschaft durch die Menschen, denen wir sie nicht zutrauen wollen. Lukas schreibt gegen unsere Vermutungen. Ein Überraschungsevangelium hinterlässt er uns, Aufwachgeschichten.