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Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren   

Franz Annen zum Evangelium an Weihnachten – Heilige Nacht: Lk 2,1–14, SKZ 49/2011

 

Der Abschnitt der Weihnachtserzählung des Lk, der in der Heiligen Nacht gelesen wird, umfasst drei Szenen: Die Einleitung (V 1–5) erzählt, wie es kommt, dass Jesus in Betlehem geboren wird. Die Geburt Jesu selbst wird sodann (V 6–7) äusserst nüchtern und kurz erzählt. Himmlischer Glanz umstrahlt hingegen die Erscheinung des Engels des Herrn und der Engelchöre bei den Hirten auf dem Feld (V 8–14). Diese dritte Szene erschliesst die ganze wahrhaft weltbewegende Bedeutung des alltäglichen Geschehens im Stall von Betlehem.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Die Heils-Erwartungen Israels waren sehr vielfältig.1 Eine verbreitete Erwartung, die Lk in seiner Weihnachtserzählung aufnimmt, knüpfte sich an einen künftigen Nachkommen Davids. Ausgangspunkt ist die Verheissung des Propheten Natan an König David: «Dein Haus und dein Königtum sollen durch mich auf ewig bestehen bleiben; dein Thron soll auf ewig Bestand haben» (2 Sam 7,16). Als die davidische Dynastie im Exil des 6. Jahrhunderts v.  Chr. unterging, führte der Glaube an die Treue Gottes dazu, dass für viele der Messias (der Gesalbte, d. h. der König als Gesalbter Gottes) aus dem Hause Davids eine eschatologische Hoffnung wurde. Der Prophet Micha (5,1) lässt diesen Messias wie David selbst aus Betlehem hervorgehen. In der politisch unruhigen Situation der Zeit Jesu waren diese messianischen Hoffnungen in verschiedenen Kreisen sehr lebendig.

Die Weihnachtserzählung des Lukas ist sehr deutlich von diesen Erwartungen geprägt: Weil Josef, der Vater Jesu vor dem Gesetz, «aus dem Haus und Geschlecht Davids» (Lk 2,4) ist, begibt er sich aus Anlass einer Volkszählung mit seiner schwangeren Frau Maria nach Betlehem, das zweimal ausdrücklich als «Stadt Davids» (2,4.11) bezeichnet wird. Auch das Hirten-Szenario des zweiten Teils der Erzählung passt gut zur Erinnerung an David. Als nämlich Samuel nach Betlehem kam, um David im Auftrag Gottes zum König zu salben, «hütete er gerade die Schafe» (1 Sam 16,11).

Ganz alttestamentlich-jüdisch geprägt ist auch der zweite Teil der Erzählung. Er verwendet Stilmittel der Apokalyptik (himmlischer Glanz, Engel und himmlisches Heer, Lobeshymne). Inhaltlich verkündet der «Engel des Herrn», der aus dem AT als Bote Gottes bestens bekannt ist, den Hirten und dem «ganzen Volk» (das verwendete griechische Wort laós ist für das Volk Gottes reserviert!) «eine grosse Freude», nämlich die Geburt des Messias, und zwar mit Betonung auf «heute». Der Gesang des himmlischen Heeres enthält eine Reihe von Begriffen, die im AT und im Judentum ein besonderes Gewicht haben: dóxa (Lichtglanz Gottes), eiréne (schalom, Frieden), eudokía (Wohlgefallen, Gnade). In sehr jüdischen Worten und Vorstellungen also wird dem Volk Gottes die Geburt des von vielen erwarteten Messiaskönigs verkündet – zur Verherrlichung Gottes und als Zusage des Friedens (im umfassenden Sinn von schalóm) für die Menschen, denen Gottes Wohlgefallen gilt.

Aber Lukas belässt es nicht bei diesen traditionellen jüdischen Aussagen über die Geburt des Messias. Er betont die universale Bedeutung der Geburt Jesu, indem er sie weltgeschichtlich einordnet und Jesus mit Rettergestalten konfrontiert, denen in der damaligen Welt ausserhalb des Judentums die Sehnsucht der Menschen galt.

«In jenen Tagen geschah es …», beginnt Lk und datiert das Geschehen in Bethlehem im Rahmen der Weltgeschichte, als Kaiser Augustus eine reichsweite Volkszählung anordnete und Quirinius Statthalter von Syrien war. Es braucht uns nicht zu kümmern, dass Lk offensichtlich über die Volkszählung und die Amtszeit des Quirinius einem Irrtum unterliegt. Seine Absicht ist klar: Er will ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung erzählen, das auch mit Kaiser Augustus zu tun hat. Denn dieser Kaiser Augustus wurde von der imperialen Propaganda (vor allem im Osten des Reichs) zum Retter und Heiland der Welt hochstilisiert. Der Dichter Vergil preist ihn in seiner bekannten 4. Ekloge überschwänglich als «Sohn Gottes und den Bringer der goldenen Zeit». In einer Inschrift, die man 1890 in Priene (Kleinasien) entdeckte, heisst es u. a. über Augustus:2 «Dieser Tag, der Geburtstag des Kaisers, hat der Welt ein anderes Gesicht gegeben. Sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem heute Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Heil aufgestrahlt wäre (…). Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heil der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, dass er uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt ist. Jedem Krieg wird er ein Ende setzen und alles herrlich machen. In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen der Vorfahren erfüllt (…). Mit dem Geburtstag des Gottes beginnt für die Welt das Evangelium, das sich mit seinem Namen verbindet.» Da diese Inschrift inzwischen in mehreren Städten Kleinasiens gefunden wurde, ist es gut möglich, dass sie dem gebildeten Verfasser des Lk-Evangeliums bekannt war. Jedenfalls ist für ihn nicht Augustus, sondern das Krippenkind in Betlehem der Heiland der Welt. Für den grossen Kaiser Augustus bleibt die Rolle des Erfüllungsgehilfen der Pläne Gottes: Seine Anordnung einer Volkszählung sorgt dafür, dass Jesus in Betlehem, der Stadt Davids, geboren wird.

Damit aber von Anfang an ganz klar ist, dass Jesus ein Messiaskönig und Heiland ganz eigener Art ist, setzt Lukas in der Erzählung von der Geburt Jesu noch einen weiteren, ebenso deutlichen Akzent. Anders als es von einem Messias aus königlichem Haus und erst recht einem Heiland wie Augustus zu erwarten ist, wird Jesus in Armut geboren: Der Stall und die Krippe sind deutliche Zeichen dafür; die als gesellschaftlich minderwertig angesehenen Hirten sind seine ersten Besucher. Das Zeichen, das ihnen gegeben wird, ist ein Neugeborenes in Windeln, das in einem Futtertrog liegt. Darin deutet sich in der Ferne bereits das Kreuz auf Golgota an. Welch ein Kontrast zum Lichtglanz des Herrn und dem Engelheer, das dieses Kind als Heiland, Messias und Herrn feiert und in seiner Geburt den Frieden auf Erden ankündet – hier und heute.

Mit Lukas im Gespräch

Dieses Hier und Heute galt nicht nur damals in Betlehem. Lk versteht es so, dass es für alle gilt, zu denen das Evangelium gelangt,3 also auch uns, die wir uns in der Weihnachtsmette oder auf andere Weise der Botschaft des Engels öffnen. Jesus ist – aus christlicher Sicht – der erwartete Messias Israels. Er bedeutet aber auch die Erfüllung der Sehnsüchte der Menschen überhaupt, die sich damals an der Gestalt des Kaisers Augustus, an andern Herrschern, sie sich gerne den Ehrentitel «Heiland» (griech. sotér) beilegten, an allerlei Wunder- und Gottesmännern oder Heilgöttern wie Asklepios oder Serapis festmachten. Der Erfüller all dieser Sehnsüchte ist uns geboren; sein Geburtstag ist «heute». Das ist eine «grosse Freude» für das ganze Volk und bedeutet «Frieden auf Erden».

Im Blick auf unsere Welt 2000 Jahre danach hören wir diese Botschaft mit gemischten Gefühlen. Erfüllt sind diese Sehnsüchte der Menschen eindeutig (noch) nicht. Aber die Sehnsucht ist uns geblieben. Darum wohl ist uns Weihnachten so wichtig. Vielleicht vergessen wir manchmal in unserer mehr als begreiflichen Ungeduld, dass ein Wickelkind in einem Futtertrog das Zeichen dieses Heilands, Messias und Herrn ist. Auch wenn wir uns schwertun damit: Die Erfüllung führt über Kreuz und Golgota. Aber: Mitten in der Erfahrung von Kreuz und Golgota erinnert uns die Weihnachtsbotschaft immer wieder daran, dass die Verheissung gilt und in Erfüllung begriffen ist. Und das ist auch für uns Grund zu «grosser Freude».