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Zwischen Wüste und Paradies   

Simone Rosenkranz zum Evangelium am 4. Adventssonntag (18.12.): Lk 1,26–38, SKZ 49/2011

Die Verkündigung der Geburt Jesu an Maria durch den Engel Gabriel wird – etwas anachronistisch – kurz vor Weihnachten gelesen. Das Fest der Verkündigung Marias wird jedoch chronologisch richtiger traditionell neun Monate vor Weihnachten, nämlich am 25. März, gefeiert. Das Verkündigungsfest fällt damit mit dem Frühlingsbeginn zusammen, während der vierte Adventssonntag ungefähr den Beginn des Winters markiert. Die beiden Verkündigungsfeste rahmen damit den Winter, diese unfruchtbare – oder biblisch gesprochen – «wüstenhafte» Zeit ein: Sie erhellen den Beginn des Winters und läuten nach seinem Ende den Frühling, den Neubeginn ein.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Unser Text steht in enger Beziehung zu anderen Texten bei Lukas und im Neuen Testament: Die Verkündigung an Maria, wie sie bei Lukas erzählt wird, unterscheidet sich deutlich von der Verkündigungsgeschichte bei Matthäus – die beiden anderen Evangelien erwähnen die Verkündigung nicht. Matthäus erzählt aus der Perspektive von Josef, im weit ausführlicheren Text bei Lukas steht Maria im Zentrum. Die Erscheinung Gabriels vor Maria unterscheidet sich andrerseits auch deutlich von der unmittelbar vorangehenden Passage über die Erscheinung Gabriels vor Zacharias: Während sich der Engel dem Priester Zacharias im Tempel in Jerusalem zeigt, erscheint er der Maria offenbar in ihrem Haus in dem relativ unbedeutenden Ort Nazaret. Auch die Reaktion von Zacharias fällt anders aus als diejenige Marias: Zacharias kann die Botschaft des Engels nicht glauben (Lk 1,18) und wird daraufhin stumm (Lk 1,22). Maria nimmt die Botschaft Gabriels an (Lk 1,38) und redet (Lk 1,46–55). Ein weiterer Unterschied liegt in der zeitlichen Einordnung der beiden Episoden: Bei der Erscheinung des Engels vor Zacharias werden welthistorische Ereignisse angeführt (Lk 1,5), die chronologische Einordnung der Geburt Jesu führt uns hingegen zu einer persönlichen «weiblichen» Zeitzählung, nämlich zur Zahl der bereits vergangenen Monate der Schwangerschaft Elisabeths. Die Ankündigung der die Welthistorie sprengenden Geburt Jesu findet ausgerechnet in einem intimen, privaten Rahmen statt!

Lukas «kommuniziert» in unserer Passage auch aufs Engste mit der hebräischen Bibel, die den ganzen Text beeinflusst: Die Erwartung eines Königs aus dem Hause Davids wird beispielsweise bereits bei Jesaja angesprochen und gehört zu den häufigen frühjüdischen eschatologischen Vorstellungen: «Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter (…), auf dass seine Herrschaft gross werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich» (Jes 9,5 f.). Die Jungfrauengeburt hat die christliche Exegese in der hebräischen Bibel ebenso gefunden (Jes 7,14) wie den «Sohn Gottes» in Psalm 2,7.

Lukas bezieht sich auch auf die ersten beiden Kapitel der Genesis. So schweigt er zwar darüber, wie genau die Zeugung Jesu vonstatten ging. Die spätere christliche Ikonografie hat diese «Überschattung» Marias durch den Heiligen Geist durch ein Licht, das Maria trifft bzw. durch eine Taube über ihrem Kopf darzustellen versucht. Die Worte Gabriels haben damit ähnlich wie das Schöpfungswort Gottes im Schöpfungsbericht eine unmittelbar wirkende Kraft.

Auch die auf wunderbare Weise zu Stande gekommene Schwangerschaft Marias steht in einer langen Tradition: Die hebräische Bibel berichtet immer wieder über die von Gott herbeigeführten Geburten von herausragenden Kindern, so beispielsweise über die Geburt Isaaks (Gen  18) oder über die Geburt Samuels (1 Sam 1).

Neben diesen offensichtlichen Anspielungen bei Lukas auf die hebräische Bibel gibt es jedoch auch weniger deutliche Anklänge, von denen ich eine aufgreifen möchte: So weist die Verkündigungsszene Ähnlichkeiten zur Erscheinung des Engels vor Hagar in Genesis 16 auf: Wie bei Hagar erscheint der Engel Gottes im Falle von Maria einer Frau. Weder Hagar noch Maria sind bekannte oder mächtige Frauen: Hagar ist eine ägyptische Magd, Maria eine unbekannte junge Frau aus dem wenig berühmten Nazaret. Beide Frauen befinden sich in einer eher unangenehmen Situation: Die schwangere Hagar wird aus ihrer sicheren Umgebung verjagt, Marias Schicksal als unverheiratete schwangere Frau ist mehr als ungewiss (vgl. Mt 1,19). Die Formulierung der Verheissung des Engels ist sich in beiden Fällen sehr ähnlich, so spricht der Engel zu Hagar: «Weiter sprach der Engel des Herrn zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der Herr hat dein Elend erhört. Er wird ein wilder Mensch sein (…)» (Gen 16,11). Und wie Maria akzeptiert schliesslich auch Hagar die Botschaft des Engels (Gen 16,13). Sogar der Ort der Engelsbegegnung hat die spätere christliche Tradition angeglichen: Gemäss Gen 16,7 findet der Engel Hagar bei einer Wasserquelle. In Nazaret wird bis heute ein Brunnen verehrt, wo der Engel Maria erschienen sein soll.

Die Ankündigung der Geburt Jesu – und für Lukas und das spätere Christentum bedeutet dies: Die Ankündigung eines durch Jesus herbeigeführten neuen absolut gerechten Zeitalters, des «Reiches Gottes» – findet nicht auf der Bühne der Weltöffentlichkeit, nicht unter den Reichen und Schönen, nicht einmal in einer intakten Familie und – dies macht die Parallele zur Ägypterin Hagar deutlich – möglicherweise unter Fremden statt. Diese weltbewegende Ankündigung ereignet sich am Rande der Gesellschaft.

Im Gespräch mit Lukas

Das Hereinbrechen des neuen messianischen Zeitalters geschieht für Lukas zunächst unspektakulär in einem unbedeutenden Dorf, im Alltag einer unbedeutenden jungen Frau. Gerade dieser gewöhnliche Alltag wird durch die Offenheit Marias aber durchlässig für die angekündigte neue paradiesische Zeit, für das Reich Gottes.

Diese Idee drückt auch ein späterer Text aus, der ebenso wie Lukas die Schriften seines jüdischen Umfeldes aufgreift, mit den Evangelien sowie mit weiteren christlichen (und jüdischen) Texten «kommuniziert», nämlich der Koran. Daher sei als Abschluss die Passage über die Verkündigung und Geburt Jesu aus dem Koran angeführt. Wie Lukas berichtet der Koran über die Zeugung Jesu von Gott her (Koran Sure 19, 22–26): «Da war sie mit ihm schwanger und zog sich mit ihm an einen fernen Ort zurück. Die Wehen drängten sie zum Stamm der Palme. Sie sagte: ‹Wäre ich doch vorher schon gestorben und ganz vergessen worden!› Da rief er ihr von unten zu: ‹Sei nicht traurig! Dein Herr hat unter dir fliessendes Wasser geschaffen. Schüttle den Stamm der Palme zu dir hin, dann lässt sie frische, reife Datteln auf dich fallen. So iss, trink und freu dich!›» Der koranische Text enthält wiederum Anspielungen zur Hagargeschichte, so die Einsamkeit und Angst Marias in der Wüste. Darüber hinaus enthält sie aber auch paradiesische Motive: Das Wasser und die Datteln sowie die Aufforderung, zu essen und zu trinken, erinnern an den Garten Eden. Die Offenheit für und das Annehmen der Verkündigung, wie es Maria und Hagar vormachen, lässt demnach das Paradies im (manchmal) wüstenhaften Alltag aufscheinen.