Wir beraten

Die siebzig Gesichter der Schrift   

Buch des Monats Dezember 2011

Der Titel des Buches ist eine Anspielung auf einen jüdischen Midrasch, nach welchem die Tora siebzig Gesichter hat, und will besagen, dass es viele Möglichkeiten und Zugänge zur Schrift gibt. In diesem Fall hat sich ein Team von sieben Autorinnen und Autoren das Ziel gesetzt, die atl. Lesungen der Sonntage zuerst «mit Israel gelesen» unter dem Gesichtspunkt zum Leuchten zu bringen, was ihre Eigenaussage im Kontext des AT ist und wie sie in der jüdischen Auslegungstradition verstanden werden. Erst in einem zweiten Schritt wird noch kurz die Frage gestellt, in welcher Beziehung sie «christlich gelesen» zum Evangelium des jeweiligen Sonntags stehen. Insgesamt sind es 56 Beiträge zu je fünf Seiten.

Diese doppelte Leseweise wird in der Einleitung, in welchem die Modelle christlicher Lektüre des AT von D. Bauer vorgestellt werden, mit einem Verweis auf den Pilgerbericht der Egeria eingeführt; damit wird gezeigt, dass eine wörtliche und anschliessend eine geistliche Lesung der Hl. Schrift von Anfang an zum christlichen Umgang gehörte. In der konkreten Anwendung dieser Leseweisen ist es freilich zu Entwicklungen gekommen, welche nicht nur das AT zu einem ,Vor-Wort` des NT degradierten, sondern ,Israel` gleichsam seiner Hl. Schriften enteigneten und sie der Kirche zusprachen, denn nur sie verstehe sie im ,Lichte Christi’ richtig. Durch das II. Vatikanische Konzil und weiters durch die jüngsten Dokumente der Päpstlichen Bibelkommission, die ausführlich zitiert werden, ist es zu einer Neubesinnung des Verhältnisses zum Judentum und zu einem positiven Umgang mit der jüdischen Bibelauslegung gekommen. Diesen Spuren wollen daher die vorliegenden Auslegungen mit Nachdruck folgen; eine jüdische Stimme, M. Bollag, kommentiert abschliessend den Ansatz in seinen Möglichkeiten und Grenzen.

Da wir am Beginn des Lesejahres B stehen, legt sich nahe, als erstes die Auslegung der Lesungen des Advents in den Blick zu nehmen. Den Autoren ist hier keine einfache Aufgabe gestellt, da die Leseordnung die meisten Texte nur gekürzt gleichsam als ,Wort-Gottes-Diät’ vorschreibt – in dieser Form werden sie einleitend auch abgedruckt.

Am 1. Adventsonntag ist ein Auszug aus dem Klagepsalm Jes 63,7-64,11 mit Schwerpunkt auf den klagenden Teil vorgesehen. Die Auslegung von P. Zürn greift diesen Punkt auf und stellt ihn in den Kontext von Ps 22, wodurch der Aspekt der Verborgenheit Gottes unter einem breiteren Blickwinkel erscheint. Von hier aus wird zwar auf einige Themen des Mk-Ev verwiesen, aber ein Zusammenhang mit dem Ev-Text aus Mk 13 kommt nur am Rand in den Blick.

Der 2. Adventsonntag ist nach der Leseordnung Johannes dem Täufer zugeordnet; Lesung und Evangelium sind über das Zitat von Jes 40,3 miteinander verbunden. W. Baders Auslegung des Auswahltextes Jes 40,1-5.9-11 konzentriert sich zum einen auf das Thema des Trostes im atl. Kontext, zum anderen knapp auf das Bild des Hirten im 2. Teil der Lesung. Bei der ntl. Verwendung des Zitates zeigt er in kurzen Strichen die inhaltliche Verschiebung auf.

Der 3. Adventsonntag steht unter dem Thema der Freude; der dafür vorgesehene Lesungstext, Jes 61,1-2a.10-11, wird von D. Bauer bezüglich der Abgrenzung mit Recht kritisiert, indem er zeigt, dass die ,Ausrufung des Gnadenjahres’ der Ergänzung durch ,den Tag der Vergeltung’ bedarf. Nur so kann auch der zweite Teil der Lesung ehrlich gelesen werden. Das Evangelium knüpft mit dem Bekenntnis des Täufers, dass er den Geist auf Jesus herabkommen sah, an die Lesung an.

Die sehr verwunderliche Kombination von Gen 15,1-6 mit Gen 21,1-3 am Fest der Hl. Familie erweckt, wie A. Flury-Schölch richtig bemerkt, den Eindruck, als sei bei Abraham und Sara die Erfüllung sofort und problemlos auf die Verheissung gefolgt, darum stellt er dieses Missverständnis mit einer Skizze der Abraham-Sara-Hagar-Erzählungen richtig. Mit diesem Hintergrund kann auch besser auf das Evangelium vom Leben der Hl. Familie und ihren Nöten hingesehen werden.

Der 1. Januar als Hochfest der Gottesmutter hat den Aaronssegen, Num 6,22-27, als Lesungstext. U. Rapp erläutert die einzelnen Zusagen mit Verweis auf parallele Texte im AT und auf Erweiterungen derselben in den Texten von Qumran. Auch der Gebrauch der Formel im jüdischen Gottesdienst kommt zur Sprache, sodass ein guter Eindruck von der Wirkungsgeschichte dieses Textes entsteht.

Die Unsitte, gekürzte Texte zur Lesung vorzuschreiben, geht auch an den Sonntagen im Jahreskreis weiter; P. Zürn zeigt anhand 1Sam 3 am 2. Sonntag i. JK, dass durch die Auslassungen wichtige Teile verloren gehen, A. Flury-Schölch löst am 3. Sonntag i. JK die Kürzung des Jona-Textes damit auf, dass er den Gedankengang des ganzen Buches skizziert, und D. Bauer weist darauf hin, dass die Auswahl aus Lev 13 am 6. Sonntag i. JK das alte christliche Vorurteil von der jüdischen «Gesetzesreligion» verstärkt; seine Auslegung ist also eine wichtige Korrektur. Nicht minder wichtig ist sein Plädoyer, am 2. Fastensonntag den herausfordernden Text von Gen 22 ganz zu lesen, denn nur so wird die  volle Dramatik des Geschehens erkannt. Gerade wenn die Lesungen der Fastenzeit unter dem Gesichtspunkt ausgewählt sind, «dass die Gläubigen Schritt für Schritt den Glauben, den sie bekennen, und die Heilsgeschichte immer besser verstehen lernen» (PEM 60), dann sollten diese wichtigen Texte nicht auch noch verstümmelt werden.

Von den Auslegungen der Lesungen an den Fastensonntagen möchte ich den 1. und den 3. Sonntag herausgreifen. Am ersten wird ein Ausschnitt aus dem Bund Gottes mit Noach und der Menschheit, Gen 9,8-15, gelesen; dieser Bund ist gemäss der jüdischen Wirkungsgeschichte als erster Ansatz eines Weltethos zu sehen, wie W. Bader sehr klar darlegt.

Am 3. Sonntag wird der Dekalog in der Fassung von Ex 20,1-17 gelesen. P. Zürn stellt in seiner Auslegung den Text in den grösseren Zusammenhang der Tora und weist in weiterer Folge auf die Missverständnisse hin, welche die christliche Verwendung hervorgerufen hat.

Die christliche Verortung des vierten Gottesknechtsliedes am Karfreitag gibt eine Leserichtung vor, die den Text einengt. Dagegen zeigt W. Bader anhand einer Auslegung der Bildsprache des Textes verschiedene Möglichkeiten der Deutung auf, die letztlich auch im Blick auf den Kreuzestod Jesu bedeutsam sind. Ein Ausschnitt von zwei Versen ist noch am 29. Sonntag im JK als Lesung vorgesehen; er wird von R. Bahn kommentiert.

Liest man nach P. Zürn den Schilfmeerbericht, Ex 14,15-15,1, zuerst «mit Israel» und dessen Auslegungen von diesem Rettungsgeschehen, dann eröffnen sich für Christen Perspektiven, die den Text in neuer Weise als Osterbericht sehen lassen. Das ist eine wichtige Ergänzung.

Von den Sonntagen nach Pfingsten seien ebenfalls noch einige Beispiele vorgestellt. Die Auslegung der Lesung des 14. Sonntag im Jahreskreis (=JK), Ez 1,28b-2,5, gibt W. Bader die Gelegenheit zu einer beispielhaften sprachlichen Analyse des Textes, welche er zugleich zur Demonstration von inhaltlichen Verschiebungen nützt, welche durch die Übersetzungen entstehen und den Zusammenhang von Altem und Neuen Testament verändern. Flury-Schölch wiederum nimmt den Texttorso des 15. Sonntag, Am 7,12-15, zum Anlass für eine geraffte Darstellung des Wirkens der Propheten im AT und zeigt im Anschluss daran die prophetischen Momente im Wirken Jesu auf. P. Zürn zeigt anhand der Lesung des 22. Sonntag im JK, Dtn 4,1-2.6-8, einige grundlegende Elemente des jüdischen Gesetzesverständnisses auf und fragt im Anschluss, wie Jesu Umgang mit den Speisegeboten in Mk 7 sich einordnen lässt. Als letzter sei noch der 23. Sonntag im JK genannt. Die Leseordnung sieht – offenbar im Blick auf das Evangelium – wieder nur einen Ausschnitt aus Jes 35, nämlich die Verse 4-7a, vor, aber D. Bauer drängt in seiner Auslegung dazu, den ganzen Text zu lesen, damit der Überschuss in den atl. Verheissungen deutlich wird, der sich nicht zuletzt in der vielfältigen Wirkungsgeschichte des Textes bis in die Gegenwart zeigt.

Die ausgewählten Beispiele lassen gut erkennen, dass jede/r Ausleger/in in seiner/ihrer Lesung des Textes «mit Israel» einen eigenen Schwerpunkt setzt, sodass sie sich auf diese Weise sehr gut ergänzen. Durch die jüdischen Quellen, die sie immer wieder im Wortlaut anführen, bekommen ihre Ausführungen nicht nur eine besondere Note, sondern auch einen bleibenden Wert. Mit ihrem Blickwinkel auf den atl. Kontext mildern sie zwar den oft verstümmelten Charakter der Lesungstexte, aber noch wichtiger erscheint mir die häufig erhobene Forderung, dass der ganze Text vorgetragen werden solle; nur so kann einer Verzweckung des Alten Testaments entgegengewirkt werden. Denn was der Hl. Athanasius bezüglich des Psalmenvortrags gesagt hat, muss wohl sinngemäss auch für das übrige AT gelten: Man solle die Texte so vortragen, dass der Hl. Geist sie als jene erkennt, die er eingegeben hat.

Franz Hubmann, Linz

Schweizerisches Katholisches Bibelwerk (Hrsg.), Die siebzig Gesichter der Schrift. Auslegung der alttestamentlichen Lesungen – Lesejahr B, Redaktion Katharina Schmocker Steiner, Paulus Verlag, Freiburg Schweiz, 2011, 304 Seiten.

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