Wir beraten

Im Anfang war das Erste Testament   

Dieter Bauer zum Evangelium am 2. Adventssonntag: Mk 1,1–8; SKZ 47/2011

Das Liturgische Markuslesejahr beginnt zwar mit dem 1. Advent, der Anfang des Markusevangeliums wird allerdings erst am 2. Adventssonntag als Evangelium verkündet. Und dieser Anfang des Evangeliums ist in mehrerlei Beziehung ein Anfang! Und er ist nicht der Einzige. Diesen vielfältigen «Anfängen» soll im Folgenden vor allem nachgegangen werden.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Der erste «Anfang» findet sich bereits im Titel des Werkes, das wir lesen. Was wir nämlich heute als Überschrift kennen: «Evangelium nach Markus», wurde dem Buch erst im 2. Jahrhundert hinzugefügt. In einer Zeit, als es schon mehrere Evangelien gab, mussten diese unterschieden werden. Der ursprüngliche und bis heute erhaltene Buchtitel lautete aber: «Anfang des Evangeliums von Jesus, dem Messias» (Mk 1,1).1

Das Evangelium, das mit diesen Worten begann, war als ältestes tatsächlich selbst der Anfang einer Tradition von Evangelienschriften, die von Jesus, dem Messias, erzählten. Aber vor allem wollte es an einen anderen «Anfang» erinnern:

Das Wörtchen «Anfang» (gr. arche) ist nämlich selbst schon eine Anspielung an den Beginn des Ersten Testaments: «Im Anfang …». Hier wie dort ging es ja nicht um alte Geschichten, sondern um das Eigentliche von Gott und Welt. Man könnte unsere Überschrift deshalb auch übersetzen: «Worum es bei der guten Nachricht von Jesus, dem Messias, eigentlich geht.»

Und das, worum es bei Jesus eigentlich geht, findet sich in den Schriften Israels (und nirgendwo anders): «Wie beim Propheten Jesaja geschrieben steht …». Markus zitiert für die Leserinnen und Leser aus den Prophetenschriften Israels, und – wie wir sehen werden – nicht nur aus Jesaja, sondern auch aus Maleachi. Was über diesem Zitat oft vergessen wird, sind der eigentliche Zusammenhang und die Zielrichtung des Zitates. Was war denn «wie bei den Propheten geschrieben steht»?

Dafür muss man den Satz nach dem eingeschobenen Zitat vervollständigen: «Wie es beim Propheten Jesaja geschrieben steht, so geschah es, dass Johannes auftrat.» Auf ihn also zielen die beiden Prophetenzitate – und auf einen Späteren. Dazu später. Jetzt sollen erst einmal die beiden Prophetenzitate zu Johannes in den Blick genommen werden:

«Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her; er soll den Weg für dich bahnen.»

Das Zitat stammt, wie gesagt, aus dem Buch Maleachi (Mal 3,1), dessen Name im Übrigen selbst schon sprechend ist: «Mein Bote». Das Buch Maleachi ist das letzte der Prophetenbücher der hebräischen Bibel. Es ist bewusst als Abschlussbuch der Propheten gestaltet und bringt die Themen, die für die Zukunft Israels wichtig sein werden.

Üblicherweise wird mit einem Schriftzitat nicht nur ein einziger Vers «anzitiert», sondern der ganze Zusammenhang. Dieser Zusammenhang aber läuft hier auf das Ende unseres Maleachi-Schlusskapitels zu, wo das Geheimnis um den Boten aufgelöst wird. Es geht um Elija: «Bevor aber der Tag des Herrn kommt, … seht, da sende ich zu euch den Propheten Elija» (Mal 3,23). Heute endet mit diesen Schlussversen das christliche «Alte Testament».

Und man braucht von daher nicht überrascht zu sein, wenn man im Folgenden feststellt, dass Johannes als Elija identifizierbar ist. Dazu später. Zunächst zum zweiten Zitat, nun wirklich aus dem Jesajabuch:

«Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Eben macht seine Pfade!» (vgl. Jes 40,3).

Damit begann im babylonischen Exil die Botschaft eines Propheten, der die Vision von einer grandiosen Heimkehr nach Jerusalem hatte: durch die Wüste auf einer Prachtstrasse, welche die babylonischen bei Weitem in den Schatten stellte. Zur Botschaft dieses Exilspropheten, den die Exegeten Deuterojesaja nennen, gehörte vor allem die Sündenvergebung: «Redet Jerusalem zu Herzen und verkündet der Stadt, dass ihr Frondienst zu Ende geht, dass ihre Schuld beglichen ist, denn sie hat die volle Strafe erlitten von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden» (Jes 40,2).

Wenn nun also Johannes in der Wüste auftritt und eine «Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden» verkündet, dann knüpft er sowohl an Elija an, der nach Maleachi kommen wird, «um das Herz der Väter wieder ihren Söhnen zuzuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern» (Mal 3,24), als auch an Deuterojesaja, der davon ausgeht, dass Gott längst alle Schuld vergeben hat und die Menschen sich nur darauf einlassen müssen, um den Weg in die Freiheit zu finden. Jesus wird das ebenfalls immer wieder bekräftigen: «Deine Sünden sind dir vergeben!»

Wen wundert es also, wenn es bei Markus heisst: «Und es zogen hinaus zu ihm das ganze judäische Land und alle Jerusalemer. Und sie liessen sich taufen von ihm im Jordanfluss und bekannten ihre Sünden» (Mk 1,5). Johannes wirkt wie Elija. Und er ist als der Prophet auch identifizierbar, denn er «war bedeckt mit (Kamel-)Haaren und mit einem ledernen Schurz um seine Hüfte» (vgl. 2 Kön 1,8). Daran wird in der alten Elijaerzählung der Prophet vom König erkannt.

Alles sieht also sehr gut aus: Der Bote ist da, der die Wende ankündigt. Die Sünden werden vergeben, und alle machen mit. Der Messias kann kommen. Und Johannes kündigt ihn ja auch an: «Es kommt einer, der stärker ist als ich, nach mir; ich bin nicht würdig, mich zu bücken und ihm die Riemen der Sandalen zu lösen. Ich habe euch getauft mit Wasser, er aber wird euch taufen mit Heiligem Geist» (Mk 1,7 f.).

Mit Markus im Gespräch

Der Evangelist erweist sich als guter Regisseur: Uns Leserinnen und Lesern gibt er einen Vorsprung, damit wir das, was jetzt kommt, auch verstehen können. Wie bei einem «Vorspiel im Theater» hat er den Vorhang noch geschlossen, bevor die Protagonisten auftreten. Es geht ihm um das Grundsätzliche. Und das ist grundgelegt in den Heiligen Schriften Israels. Vor dem Vorhang – bevor die Handlung beginnt – zeigt er auf, wie das mit dem kommenden Messias gemeint ist. Und wie es nicht gemeint ist.

Die Frage, wie denn der Messias kommen solle, war im Judentum der Zeit des Evangelisten nämlich sehr verschieden beantwortet worden. Das ist bis heute nicht anders. Aber, indem sich der Evangelist (und die frühchristliche Kirche) für bestimmte biblische Traditionen entscheiden, geben sie eine Lesehilfe für das im Folgenden erzählte Auftreten Jesu.

Die christliche Kirche hat die Prophetenschriften von der Mitte an das Ende ihres «Alten Testaments» verlegt. Dadurch werden sie nicht mehr (wie in der hebräischen Bibel bis heute) als Auslegung und Kommentar zur Tora gelesen, sondern auf das «Neue Testament» und speziell auf Jesus, den Messias, hin. Nun bildet Elija die Brücke «zwischen den Testamenten». Er ist der angekündigte Bote, der in Johannes dem Täufer Gestalt gewinnt und das Versöhnungswerk in Gang setzt, damit der grosse Tag JHWHs, damit das Reich Gottes anbrechen kann. Und der Bote ist erfolgreich: Alle ziehen in die Wüste, um sich taufen zu lassen. Wir dürfen also gespannt sein, was passiert, wenn der Vorhang aufgeht und Jesus von Nazaret auftritt.

 

1 Der Zusatz «des Sohnes Gottes» findet sich nicht in allen alten Handschriften.