Wir bringen die Bibel ins Gespräch

Zusammenhänge mit Potential   

Das Lesejahr erfahren, SKZ 46/2011

70 Gesichter

Am 1.  Advent beginnt mit dem neuen Kirchenjahr auch wieder ein neues Lesejahr. Diesmal ist es das Lesejahr B, bei dem das Markusevangelium im Zentrum der gottesdienstlichen Lesungen steht. Im Vergleich zum Kirchenjahr ist das Lesejahr im Bewusstsein der meisten Katholikinnen und Katholiken deutlich weniger von Bedeutung. Schwer zu sagen, wer überhaupt wahrnimmt, welches Evangelium in einem bestimmten Jahr eine besondere Rolle spielt. Vermutlich sind es noch weniger, die im Laufe des Lesejahres dann dieses Evangelium fortlaufend – der Leseordnung folgend – hören oder lesen. Und trotzdem hat das Lesejahr Potential, denn es macht Zusammenhänge zwischen biblischen Texten sichtbar. Zwei dieser Zusammenhänge möchte ich näher erläutern. Später stelle ich Materialien und Projekte vor, wie diese Zusammenhänge im Verlauf eines Lesejahres intensiver erfahrbar gemacht werden können. Schon jetzt ist zu sagen, dass all das nicht das letzte Wort in dieser Frage ist. Im Gegenteil, wir stehen hier noch ganz am Anfang.

Im Gespräch mit dem Evangelium und den Evangelien

Jede Perikope ist Teil eines Evangeliums. Das klingt banal, ist aber in seiner Bedeutung für das Verständnis der Texte in der Praxis noch längst nicht ausgelotet. Jedes Evangelium ist ein Gesamtkunstwerk mit seiner eigenen literarischen Gestalt und theologischen Konzeption. Jede Perikope, die die Leseordnung herausgreift, steht im Gespräch mit dem Gesamtevangelium. Sie hat darin ihren spezifischen Ort und ist geprägt von dem, was das Evangelium als Ganzes ausmacht. Das Gespräch zwischen einzelnen Perikopen und dem jeweiligen Evangelium zu erkennen, ist hilfreich und fruchtbar für den Zugang zu den Texten.

Die Leseordnung macht aber auch Zusammenhänge zwischen den einzelnen Evangelien sichtbar. Jede ausgewählte Evangelienperikope ist eine Einladung, danach zu fragen, wie der entsprechende Text in den anderen Evangelien lautet, eine Einladung zum synoptischen Vergleich. Und darüber hinaus stiftet die Leseordnung manchmal auch ganz spezifische Zusammenhänge – selbst durch Auslassungen. Das lässt sich z. B. an den Texten zeigen, die die Leseordnung für den Beginn der Lesejahre vorsieht. Am1. Adventssonntag werden Texte aus den sogenannten Endzeitreden Jesu gelesen: Mt 24,29–44 (Lesejahr A); Mk 13,24–37 (B) und Lk 21,25–28.34–36 (C). Dabei lässt die Leseordnung im Lesejahr C das Gleichnis über den Feigenbaum (Lk 21,29–31) weg. Das liegt vielleicht daran, dass Lk das Gleichnis auf das nahegekommene Gottesreich bezieht und nicht auf «das Ende» wie Mk und Mt. So regt die Auslassung zu weitergehenden Fragen an, wie etwa: Wie verhält sich die erwartete Endzeit zum schon (nahe-)gekommenen Gottesreich?

Im Gespräch mit der ganzen Bibel

Die Leseordnung verbindet jeweils Texte aus dem Neuen mit Texten aus dem Alten Testament. Sie hält so das Bewusstsein für einen Zusammenhang wach, der für das Christentum wesentlich ist: den Zusammenhang der beiden Teile unserer Bibel, also die Botschaft der einen Bibel. Bei aller berechtigten Kritik an der Zuordnung so mancher Texte zueinander ist das doch ein nicht zu unterschätzendes Potential der Leseordnung und des Lesejahres. Es wird Tag für Tag darauf aufmerksam gemacht, dass Bibeltexte miteinander verbunden sind, dass sie miteinander im Gespräch stehen – auch und gerade über die Grenzen von Neuem und Altem Testament hinweg.

Diese Gespräche nachzuzeichnen und ihre Fruchtbarkeit zu erschliessen, ist seit vielen Jahren das Ziel der Auslegungsreihe zum Lesejahr in der Schweizerischen Kirchenzeitung (SKZ). Zuerst standen die alttestamentlichen Sonntagslesungen im Zentrum der Auslegung durch ein Projektteam der Bibelpastoralen Arbeitsstelle. Drei Jahre lang wurden sie zunächst «mit Israel» gelesen. Das bedeutete: das AT zuerst einmal als Text des Volkes Israel und erst dann in seiner christlichen Deutung wahrzunehmen. Und das hiess zweierlei: Sie aus ihrem historischen Kontext heraus zu verstehen und die jüdische Auslegung dieser Texte in nachbiblischer Zeit bis heute wenigstens ansatzweise wahrzunehmen. Diese Reihe umfasste alle drei Lesejahre. Daran anschliessend begann dann die Auslegung der Sonntagsevangelien der drei Lesejahre, die immer noch andauert. Ihr Ziel ist es, die Texte der Evangelien als jüdische Texte im Kontext der innerjüdischen Auseinandersetzungen im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zu verstehen. Dabei wird v. a. danach gefragt, wie sich die Evangelientexte auf andere jüdische Texte, biblische und nachbiblische, beziehen, also mit dem im Gespräch sind, «was in den Schriften geschrieben steht».

«Die siebzig Gesichter der Schrift»

Die Auslegungen in der SKZ werden nach und nach in Buchform erscheinen. Jetzt, zum Beginn des Lesejahres B ist der erste Band dieser Reihe im Paulusverlag unter dem Titel «Die siebzig Gesichter der Schrift. Auslegungen der alttestamentlichen Lesungen des Lesejahres B» erschienen (Paulusverlag Freiburg/Schweiz 2011, 304 S.). Herausgeberin ist das Schweizerische Katholische Bibelwerk, die Redaktion besorgte Katharina Schmocker Steiner. Neben den einzelnen Auslegungen finden sich darin auch zwei grundlegende Beiträge. Unter dem Titel «Die Bibel Jesu ernst nehmen» beschreibt Dieter Bauer den christlichen Umgang mit dem Alten Testament quer durch die Geschichte anhand verschiedener Modelle, dem der Relativierung, der Typologie, der Heilsgeschichte, der Ersetzung (S. 13–22). Ausgelöst von der Katastrophe der Schoa und gestärkt durch die Neubesinnung des Zweiten Vatikanischen Konzils auf die jüdischen Wurzeln des Christentums, entwickelten sich neue Formen des christlich-jüdischen Dialogs und des christlichen Umgangs mit dem Alten Testament, bei deren Erprobung wir erst am Anfang stehen. Dieter Bauer macht deutlich, dass ein neuer Umgang mit dem Alten Testament weitreichende Auswirkungen auf alle Bereiche der Kirche – inklusive der Liturgie – hat.

In einem zweiten Grundsatzbeitrag fragt Michel Bollag, Fachreferent Judentum und Co-Leiter des Zürcher Lehrhauses, provozierend: «Mit Israel die Schrift lesen – geht das?» (S. 23–28). Er steht diesem Vorhaben skeptisch gegenüber. Insbesondere, wenn damit christlich-jüdische Bibellesegruppen gemeint sind. Daran gibt es bei der überwältigenden Mehrheit jüdischer Menschen keinerlei Interesse – aufgrund der tausendjährigen Verfolgungsgeschichte, aber auch weil die Prioritäten in jüdischen Gemeinschaften ganz woanders liegen. Skeptisch ist Bollag aber auch, weil Christinnen und Christen die Bibel eben anders lesen als Jüdinnen und Juden, und sie das auch sollen. «Die Bibel riecht anders, sie fühlt sich anders an, je nachdem, in welcher religiösen Tradition man sie kennengelernt hat und liest.» Aber gerade hier, im Erkennen und Anerkennen dieser Verschiedenheit, sieht Bollag eine Perspektive, wenn er sie auch vorsichtig mit einem Fragezeichen versieht. Denn zur jüdischen Bibel und zum Judentum gehört neben der partikularistischen Sichtweise, die vor allem in Zeiten der Krise und der Verfolgung wichtig ist, auch eine universale Dimension. Sie wurde schon in der antiken Form der Globalisierung wichtig und ist in der heutigen globalisierten Welt neu herausgefordert. Die Herausforderung besteht aber genauso für das Christentum und den Islam. Bollag sieht sie darin, die Bibel nie abschliessend, nie absolut zu lesen, sondern im Bewusstsein, «dass die eigene Religion eine Option ist, innerhalb derer es möglich ist, ‹Mensch› zu sein, ohne die Sinnoption des/der anderen zu verneinen oder zu vereinnahmen bzw. einzunehmen».

Zusammenhänge erfahrbar machen

Das Lesejahr macht Zusammenhänge zwischen Bibeltexten sichtbar. Das Lesejahr hat Potential. Wie kann dieses Potential besser entfaltet werden? Eine entscheidende Rolle spielen dabei Sie, die Verantwortlichen für die Pastoral in den Diözesen und Pfarreien. Es ist entscheidend, wie sehr Sie selbst diese Zusammenhänge wahrnehmen, wie sehr Sie im Gespräch sind mit dem Gespräch der Bibeltexte. Dafür ist es wichtig, auf hilfreiche Materialien zugreifen zu können. Wir hoffen, dass die Bücher mit den Auslegungen aus der SKZ solche hilfreichen Materialien sein werden. Die vielen positiven Echos während des Schreibens der Reihe bestärken uns in dieser Hoffnung.

Eine weitere Buchreihe aus dem Verlag Katholisches Bibelwerk sei kurz vorgestellt:

  • Eine universale Jesusgeschichte. Das Matthäusevangelium aus dem Urtext übersetzt und kommentiert von Uta Poplutz.
  • Das älteste Jesusbuch. Das Markusevangelium aus dem Urtext übersetzt von Hans Thüsing und kommentiert von Hans Thüsing und Anneliese Hecht.
  • Die lebendigste Jesuserzählung. Das Lukasevangelium kommentiert von Thomas P. Osborne und wörtlich übersetzt von Rudolf Pesch in Zusammenarbeit mit Ulrich Wilckens und Reinhold Kratz.
  • Eine wortgewaltige Jesusdarstellung. Das Johannesevangelium aus dem Urtext übersetzt und kommentiert von Joachim Kügler (erscheint Anfang 2012).

Jedes Evangelium wird mit seinem besonderen theologischen und literarischen Profil vorgestellt. Übersetzung und Kommentar stehen sich jeweils auf einer Doppelseite gegenüber. Dadurch entstehen kurze Textabschnitte. Bei der Darstellung der Bibeltexte ist direkte Rede eingerückt, innerbiblische Zitate sind kursiv hervorgehoben. Das macht dialogische Strukturen leichter erkennbar. Besonders hilfreich, um den jeweiligen Text im Gespräch mit dem gesamten Evangelium zu lesen, ist die ausführliche Gliederung des Evangeliums. Sie ist als Inhaltsverzeichnis und zusätzlich auf einer ausklappbaren Seite am Ende des Buches abgedruckt, so dass die Gliederung beim Lesen immer neben dem Text zu liegen kommt und man beim Lesen jeder Perikope genau sieht, wo man gerade im Gesamtzusammenhang des Evangeliums ist. Auch so werden Zusammenhänge erfahrbar.

… auch in den Gemeinden

Wie kann die Wahrnehmung der Zusammenhänge zwischen biblischen Texten in den Gemeinden gefördert werden? Wie kann das Potential des Lesejahres bei den Menschen, die die Texte lesen oder hören, entfaltet werden? Ich möchte zwei konkrete Projekte vorstellen, die 2011 realisiert wurden bzw. noch werden. Beide haben mit dem Markusevangelium zu tun.

a) «Mit de Bübla i d’ Stùba …»

… unter diesem Titel (franz. L’Evangile à la maison) lädt die Diözese Lausanne, Genf und Freiburg in Zusammenarbeit mit der Evangelisch-Reformierten Kirche des Kantons Freiburg von Advent 2011 bis November 2012 Menschen ein, gemeinsam das Markusevangelium zu lesen. Zu Hause, in der Stube oder am Küchentisch, und an etwa acht Abenden sollen Menschen das Markusevangelium entdecken und dabei die Erfahrungen der Menschen der Bibel teilen. Das Projekt spricht direkt an: «Nehmen Sie die Bibel in die Hand – egal, ob zum ersten Mal: Gemeinsam lesen Sie, decken Widersprüche und Weisheiten auf, stellen Fragen, suchen nach Antworten und lassen sich überraschen, was die Texte uns auch heute noch erzählen.» Dafür werden Menschen gesucht, die ihre Stube zur Verfügung stellen. Auf der Homepage (www.bueblaidstuba.ch) können sich Gastgeberinnen und Gastgeber und Teilnehmende direkt einschreiben. Dort finden sich auch aktuelle Begleitveranstaltungen. Eine Kontaktadresse (Rita Pürro) sowie der Projektbeschrieb auf Spanisch und Portugiesisch. Am 1. Advent (26./27. November 2011) beginnt das Projekt in Pfarreien und Gemeinden vor Ort mit einem Gottesdienst. Für diesen Gottesdienst hat der Diözesanvorstand Deutschfreiburg des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks gemeinsam mit der Bibelpastoralen Arbeitsstelle eine Gottesdienstvorlage erarbeitet, in dem als Predigt ein Gespräch über das Tagesevangelium aus Mk 13 stattfindet. Am Sonntagnachmittag, 27. November, wird das ganze Markusevangelium musikalisch umrahmt in Freiburg vorgetragen und anschliessend das Projekt in einer zweisprachigen und ökumenischen Feier eröffnet.

Die Fachstelle Erwachsenenbildung Deutschfreiburg hat unter dem Titel «Ein Jahr unterwegs im Markusevangelium» ein reich illustriertes Dossier für die Pfarrblätter zusammengestellt und in Zusammenarbeit mit Hermann-Josef Venetz eine umfangreiche Broschüre mit dem Text des Markusevangeliums, Informationen und Kommentaren zum Text sowie einer Hinführung zum Markusevangelium geschaffen. Darin finden sich auch Anregungen zur Gestaltung der einzelnen Abende. Ein ambitioniertes und kompetent begleitetes Projekt, dem wir gutes Gelingen wünschen!

b) «Biblisches umgeSETZT…»

… war der Titel eines Projektes in der Pfarrei St. Stephan Therwil/Biel-Benken (Baselland) gemeinsam mit der reformierten Gemeinde Oberwil-Therwil-Ettingen, das in der Karwoche 2010 begann und an Ostern 2011 abgeschlossen wurde. In der Osternacht 2011 wurde in der reformierten Kirche Therwil das gesamte Markusevangelium vorgelesen. Modellhaft hier der Ablauf dieser Lesenacht:

Ab 22 Uhr wurde zu jeder vollen Stunde ein Abschnitt vorgelesen. Die Abschnitte waren:

  • Mk 1,1–3,6;
  • Mk 3,7–5,42;
  • Mk 6,1–9,1;
  • Mk 9,2–10,52;
  • Mk 11,1–12,44;
  • Mk 13,1–14,65;
  • Mk 14,66–16,9.

Umrahmt wurde die Lesung jeweils von Percussion und dem Singen von Taizé-Liedern. Das dauerte ca. 30 Minuten. In der zweiten halben Stunde gab es jeweils die Möglichkeit für Stille oder für ein gemeinsames Erlebnis (Besuch einer Ausstellung mit Bildern einer lokalen Künstlerin zu Texten aus dem Markusevangelium, Suppe im Gemeindezentrum, Gang zum Brunnen, um Wasser für die Taufwassererneuerung in der Ostermorgenfeier zu holen). Um 4.30 Uhr machte man sich gemeinsam auf den Weg zum Osterfeuer bei der katholischen Kirche. Als Leserinnen und Leser waren neben den Verantwortlichen für das Projekt weitere Menschen aus den beiden Gemeinden beteiligt.

Die Lesenacht war wie gesagt Teil des Projektes «Biblisches umgeSETZT». Dieses wiederum war ein Modellprojekt des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks. Ein Jahr lang begleitete ein Mitarbeiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle die Gemeinden und folgte dabei einer Anregung der Bischofssynode der römisch-katholischen Kirche 2008 in Rom zum Thema «Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche». Sie bestand darin, «die Bibelpastoral zu fördern, nicht im Nebeneinander zu anderen Formen der Pastoral, sondern als biblische Beseelung der gesamten Pastoral». So ging es denn auch im Modellprojekt darum, nichts Zusätzliches zu allem anderen anzubieten, sondern in all dem, was zur Gemeindepastoral gehört, die Bibel ins Gespräch zu bringen. Das geschah von der Sitzung des Pfarreirates über die Probe des Kirchenchores, die Weiterbildung der Diakoniegruppe, den Religionsunterricht, die Erstkommunionvorbereitung und das Firm-Lager bis zur Gestaltung von Gottesdiensten. Die Erfahrungen im Modellprojekt in Therwil werden Anfang 2012 unter dem Titel «Biblische Beseelung der gesamten Pastoral» vom Schweizerischen Katholischen Bibelwerk als Anregung für andere Gemeinden veröffentlicht.

Bei der Frage, wie das Lesejahr und die Zusammenhänge zwischen Bibeltexten, die es sichtbar macht, ihr Potential stärker entfalten können, stehen wir wie gesagt noch ganz am Anfang. Weitere Ideen sind zu entwickeln und zu erproben. Eine Idee ist etwa die Gestaltung eines Symbols für das jeweilige Lesejahr – dafür eignen sich z. B. die Symbole der Evangelisten, der Mensch (Matthäus), der Löwe (Markus) und der Stier (Lukas) – das seinen Platz in der Kirche findet und während des Lesejahres immer wieder «gebraucht» und thematisiert wird. Gerne nehmen wir an der Bibelpastoralen Arbeitsstelle solche Ideen und Erfahrungen mit ihrer Erprobung entgegen: info@bibelwerk.ch.

 

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