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Was erwartest du?   

Peter Zürn zum Evangelium am 1. Adventsonntag: Mk 13,33–37 oder 13,24–37, SKZ 46/2011

 

Als der jüdische Schriftsteller Jonathan Rosen acht Jahre alt war, fragte er seinen Vater und seine Mutter: «Wünscht du dir, dass der Messias kommt?» Sein Vater dachte sorgfältig nach und sagte: «Ja.» Seine Mutter antwortete: «Nein. Ich mag das Leben so, wie es ist.» Schön in einer Familie aufzuwachsen, in der solche Fragen gestellt und ernsthaft beantwortet werden. Als Erwachsener verstand Rosen, warum seine Eltern so unterschiedlich geantwortet hatten. Sein Vater – in den Dreissigerjahren in Wien aufgewachsen – hatte in der Shoah Eltern, Verwandte und Heimat verloren. Er wünschte sich eine radikale Veränderung der Welt, die Auferstehung der Toten und das Gericht über die Gewalttäter. Seine Mutter wuchs gut behütet in New York auf. Sie wünschte sich keine andere Welt, sondern mehr von dieser. Schön, in einer Familie und Religion zu leben, in der beide Wünsche miteinander leben können. Advent ist Zeit der Erwartung: der Ankunft Jesu Christi als Kind der Krippe und seiner Wiederkunft. Was erwarten wir?

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Das Markusevangelium gestaltet die sogenannte Endzeit- oder Wiederkunftrede als Gespräch Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern beim Verlassen des Tempels in Jerusalem (Mk 13,1–4). Darin taucht das Bild für die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten auf, das in der Geschichte des Christentums (insbesondere in der Kunstgeschichte) wohl am wirkmächtigsten war, das vom «Menschensohn, der auf den Wolken kommt» (Mk 13,26). Neben den Evangelien findet es sich auch in der Offenbarung an Johannes (Off 14,14). Es ist ein Bild der jüdischen Apokalyptik, das insbesondere im Buch Daniel von Bedeutung ist (Dan 7,13–14). Dabei ist der Kontext des Menschensohnbildes wichtig: Im Kapitel 7 wird eine Vision des Propheten wiedergegeben und gedeutet. Ab Vers 9 spielt sie in einer Art himmlischem Thronsaal. Darin erscheint «mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn». Es handelt sich um eine himmlische Figur in menschenähnlicher Gestalt, vielleicht eine Art Engel. Die wichtigste Engelsgestalt im Buch Daniel ist Michael, «der grosse Engelfürst, der für die Söhne deines Volkes», d. h. für die Kinder Israels, eintritt (12,1). Diese Gestalt bekommt Macht und Würde. Alle Völker dienen ihm. Gedeutet wird das im Bibeltext selbst so: Im Himmel wird voraus abgebildet, was auf Erden noch erhofft wird – Würde und Macht für das Volk Gottes, das Volk Israel (Dan 7,27). Das Bild vom Menschensohn auf den Wolken ist also ein Bild der Hoffnung und Rettung für Israel.

Hebräisch heisst Menschensohn Ben-Adam. In der männlichen Form «Sohn» sind – dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit entsprechend – Frauen damit gemeint. Adam ist die Menschheit als Ganze, verkörpert in Frauen und Männern (vgl. Gen 1,27). Der Menschensohn ist also ein einzelner Mensch, der zur gesamten Menschheit gehört, so wie die Benei-Jisrael einzelne Menschen sind, die zum Volk Israel gehören. Menschensohn ist ein Beziehungswort. Der/die Einzelne ist verbunden mit dem Ganzen, wird durch diese Beziehung wesentlich geprägt. Das Neue Testament und die spätere christliche Tradition haben das Bild vom Menschensohn auf Jesus Christus bezogen und damit ausgedrückt: Er ist verbunden mit der ganzen Menschheit und besonders verbunden mit der Rettung und der Würde seines Volkes Israel. Und das für alle Zeiten.

Mk 13, Offb und Dan gehören zur Apokalyptik. Wir verbinden Apokalypse schnell mit Weltuntergang und dessen Vorhersage. Das geht aber am Sinn der biblischen Texte vorbei. Apokalytein heisst offenbaren, aufdecken. Die Apokalyptik will Verborgenes aufdecken. Man kann sie durchaus mit dem Anliegen von Wikileaks vergleichen: Sie will aufdecken, was die Mächtigen der Welt lieber verborgen halten wollen. Sie will die Opfer sichtbar machen, die die Mächtigen gerne unter den Teppich kehren, und ihnen ihre Würde zurückgeben. Sie will zeigen, welche Kraft und Macht wirklich in der Welt wirkt, auch wenn der Augenschein dagegen spricht, die Macht des lebendigen Gottes nämlich. Apokalyptik entsteht in Zeiten der Krise, wenn die Menschen, die sich zum Volk Gottes zählen, besonders bedrängt werden und Zuspruch und Hoffnung brauchen. Es geht nicht um Angst und Untergang, sondern um Hoffnung. Nicht um die Vorhersage des Weltuntergangs – sondern um die Zusage des Wirkens Gottes gestern, heute und morgen als Hoffnung in der Bedrängung.

Mit Markus im Gespräch

Die Zeit, in der das Markusevangelium entsteht, um 70 n. u. Z. ist für jüdische Menschen eine Zeit der Bedrängnis. Der Krieg gegen die Römer ist zugleich auch ein mörderischer innerjüdischer Bürgerkrieg. Er endet im Blutbad der Eroberung und Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Der Sohn Israels und der Menschensohn Jesus schreit in tiefster Verbundenheit mit seinem Volk und allen leidenden Menschen: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mk 15,34). In diese Situation hinein schreibt Markus den «Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes» (Mk  1,1). Die Geschichte Gottes mit seinen Söhnen und Töchtern ist – entgegen dem Augenschein – nicht zu Ende. Sie wird niemals enden. Das Vertrauen darauf ist aber alles anderes als selbstverständlich. Es muss erlernt werden. Markus weist – in den Figuren der Jüngerinnen und Jünger – seine Leserinnen und Leser an: «Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum» (Mk  13,28). In der rabbinischen Tradition wird der Feigenbaum mit der Tora verglichen. Er ist ein Baum, dessen Früchte nicht alle zur gleichen Zeit geerntet werden, wie bei der Tora. Und seine Früchte sind die einzigen, bei denen es keine ungeniessbaren Teile gibt, wie bei der Tora. Torastudium, Bibellesen, Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition, Vergegenwärtigung der gedeuteten Erfahrung der Mütter und Väter im Glauben ist eine Weise, das Vertrauen auf den lebendigen Gott zu lernen.

Was Markus ausserdem empfiehlt, ist Wachsamkeit. In 13,33–37 schärft er sie richtiggehend ein, den Jüngerinnen und Jüngern und in ihnen allen (13,37). Er vergleicht sie mit einem Türhüter. Die Ersten, die in der Bibel den Auftrag zum Wachen bekommen und als Türhüter eingesetzt werden, sind die Cherubim, die den Weg zum Baum des Lebens bewachen. Was ist das Ziel ihrer Wachsamkeit? Den Menschen deutlich zu machen, dass es keine Rückkehr ins Paradies gibt, keinen Weg zurück in Räume der Unschuld und der Fraglosigkeit. Aber sind sie nicht auch wachsam für den Baum des Lebens selbst? Ihre Wachsamkeit bewahrt das Leben. In der himmlischen Stadt, die der Apokalyptiker Johannes sieht, stehen viele Bäume des Lebens (Offb 22,1–2). Uns ist verheissen, am Baum des Lebens Anteil zu haben (22,14). Das Leben mit der Tora ist ein genussvoller Vorgeschmack davon.

Was erwarten wir im Advent? Ein Menschenkind, ein neues Mitglied der Menschheitsfamilie. Mehr als 7 Milliarden sind wir jetzt. Was steht noch aus? Dass die Menschheit als Einheit in Verschiedenheit miteinander lebt.

 

Literatur: Jonathan Rosen: Talmud und Internet. Eine Geschichte von zwei Welten. (Jüdischer Verlag) Frankfurt a. Main 2002.