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«Glückselig, die arm sind im Geiste ...»   

Franz Annen zum Evangelium am Fest Allerheiligen (01.11.): Mt 5,1–12 – SKZ 42/2011

 

Am Fest Allerheiligen feiert die Kirche für einmal nicht ihre heiliggesprochenen Heiligen, sondern all ihre Glieder, die bei Gott die Vollendung gefunden haben. Als Evangelium sind an diesem Tag die «Seligpreisungen» der Bergpredigt vorgesehen. Die Liturgie setzt voraus, dass diese Seligpreisungen an den Menschen, die an Allerheiligen als «Heilige» gefeiert werden, in Erfüllung gegangen sind, aber auch den heutigen Hörern des Textes als Verheissung gelten.

« … was in den Schriften geschrieben steht»

Die Seligpreisungen atmen in Form und Inhalt ganz den Geist des AT und des Judentums. Die Einleitung weist darauf hin, dass sich Jesus wie ein Rabbi im Kreise seiner Jünger hinsetzt und lehrt. Die anwesenden Volksscharen hören ebenfalls zu und sind mitgemeint (Mt 5,1–2; 7,28–29).

Die literarische Gattung der Seligpreisungen war den Hörern Jesu und den jüdischen Lesern des Mt-Evangeliums wohlbekannt, vor allem aus den Psalmen und der Weisheitsliteratur. Sie preisen meist Menschen selig, die ihr Leben nach der Tora bzw. nach der Weisheit ausrichten. So beginnt der erste Psalm und damit der ganze Psalter mit den Worten: «Selig der Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht. Er ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist …» (Ps 1,1–2). Betreffen die Verheissungen zunächst das gegenwärtige Leben, bekommen sie in der apokalyptischen Literatur einen endzeitlichen Sinn. So steht etwa in den Psalmen Salomos (verfasst im 1. Jh. v. Chr.): «Selig, die leben in jenen Tagen, zu sehen die Wohltaten des Herrn, die er erweisen wird dem kommenden Geschlecht …» (PsSal 18,6).

Auch inhaltlich nehmen die Seligpreisungen der Bergpredigt – gerade in der matthäischen Form – zentrale Anliegen der jüdisch-weisheitlichen Paränese auf (Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Herzensreinheit usw.) und bedienen sich alttestamentlicher Texte als Hintergrund, besonders deutlich etwa Jes 61,1–3.7:1 «Der Herr hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe und alle heile, deren Herz gebrochen ist …, damit ich alle Trauernden tröste, die Trauernden Zions erfreue, ihnen Schmuck bringe anstelle von Schmutz, … Jubel statt der Verzweiflung … Doppelte Schande mussten sie ertragen, sie wurden angespuckt und verhöhnt; darum erhalten sie doppelten Besitz in ihrem Land, ewige Freude wird ihnen zuteil.» Um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen: Die erste Seligpreisung (Mt 5,3) erinnert mehr als deutlich an Ps 37,11: «Doch die Armen werden das Land bekommen, sie werden Glück in Fülle geniessen.»

Im Ganzen formulieren also die Seligpreisungen der Bergpredigt, dieses Herzstück der jesuanischen Verkündigung, gut alttestamentlich-jüdisches Gedankengut in überlieferter literarischer Form. Mit Ausnahme eines einzigen Wortes («meinetwegen» in Mt 5,11) könnten sie ebenso gut in einer jüdischen Schrift stehen.

Mit Matthäus im Gespräch

Im NT erhalten die Seligpreisungen ihren Platz und ihre Bedeutung im Rahmen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Der Bergpredigt bei Mt geht die Notiz voraus, dass Jesus die Nähe des Gottesreiches ankündigt (Mt 4,17) und sein messianisches Wirken beginnt. Am Anfang des zentralen Lehrstückes von der Gerechtigkeit, wie sie zum Reich Gottes gehört (Mt 5–7), formuliert Jesus in den Seligpreisungen die grosse Verheissung, die sich in ihm und seinem Wirken erfüllt (Mt 5,3–12). Die meisten Exegeten sind der Ansicht, dass sie im Grundbestand auf Jesus selbst zurückgehen, und dass die einfachere Form, wie sie in Lk Lk 6,20–22 überliefert ist, dem Wortlaut Jesu näher steht als Mt.2

Mt fügt zu den vier Seligpreisungen, die sich bei Lk finden, fünf weitere hinzu und setzt eigene Akzente. Die ersten acht gestaltet er sprachlich und rhythmisch sehr sorgfältig. Die gleichlautende Verheissung in 5,3 und 5,10 («denn ihnen gehört das Himmelreich») bildet einen Rahmen um diese Achtergruppe. Sie ist wiederum in zwei Strophen von gleicher Länge (je 36 Wörter) aufgeteilt. Das Wort «Gerechtigkeit» in der vierten und achten Seligpreisung markiert jeweils den Schluss der Strophe. Alle vier seliggepriesenen Kategorien der ersten Strophe beginnen im Griechischen mit dem Buchstaben pi.

Die neunte Seligpreisung (Mt 5,11–12) hebt sich formal deutlich von den vorangehenden ab. Sie ist wortreicher formuliert und spricht als einzige der Seligpreisungen bei Mt die Zuhörer direkt an («ihr»). Inhaltlich ist sie eine Wiederaufnahme der achten, allgemein gültig formulierten Seligpreisung der um der Gerechtigkeit willen Verfolgten und wendet sie konkret auf die Situation der Zuhörer an (5,11: «wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet»).

Im Vergleich zu Lk (und wohl auch Jesus selbst) setzt Mt in den ersten acht Seligpreisungen deutlich einen neuen Akzent. Er preist nicht mehr schlicht und einfach die Armen, die Hungernden und Weinenden, sondern die «Armen im Geiste» (bescheiden in ihrer inneren Haltung? arm vor Gott?),3 die Trauernden, die Milden (Demütigen, Freundlichen, Gewaltlosen?),4 die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, die Barmherzigen, die Herzensreinen,5 die Friedensstifter und die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten. In der letzten Seligpreisung stimmt er mit Lk überein, dass es um die Verfolgten «um meinetwillen» (d. h. um Jesu willen, so Mt) bzw. «um des Menschensohnes willen» (Lk) geht. Insgesamt ist bei Mt sehr deutlich eine Tendenz zur «Ethisierung» der Seligpreisungen festzustellen, die in der christlichen Interpretationsgeschichte später noch deutlicher wird.

Wer das Mt-Evangelium besser kennt, wird darüber nicht erstaunt sein. Wohl aus der Situation seiner Kirche heraus, in der offenbar die «erste Liebe» bereits etwas erkaltet ist und Lauheit zum Problem wird, setzt der erste Evangelist insgesamt deutlichere paränetische (ermahnende) Akzente und trägt auch verschiedentlich den Gerichtsgedanken ein. Trotzdem bleiben auch bei Mt die Seligpreisungen «an erster Stelle Glückwünsche, Gratulationen, Zuspruch von Glück und Segen»,6 Ausdruck von Evangelium und Gnade. Sie in erster Linie als Morallehre oder gar als Ausdruck von Lohndenken zu interpretieren, wäre ein Missverständnis. Der Rahmen im Ganzen des Mt-Evangeliums macht das deutlich genug. Sie sind Verheissungen des Messias Jesus, mit dessen Lehren und Wirken das «Reich Gottes» anbricht (vgl. «Himmelreich» in 5,3.10, das in der Präsensform zugesagt wird). Bei der Vollendung werden die Seliggepriesenen zu Erben des Landes und zu Söhnen Gottes, sie werden Gott schauen (5,3.8.9 in der Futurform). Das alles bleibt Gnadengeschenk, auch wenn Mt stärker als Lk betont, dass der Heilszuspruch Gottes Konsequenzen für das Handeln der Menschen haben muss.