Wir beraten

Anders als üblich!   

Winfried Bader zum Evangelium am 24. Sonntag im Jahreskreis: Mt 18,21–35, SKZ 35/2011

Lassen Sie doch einmal beim Lesen des Sonntagsevangeliums die ersten Verse aus und beginnen bei der zweiten Szene (Mt 18,28–30). Was da erzählt wird, ist ganz normaler menschlicher Alltag – bis heute. Jemand hat eine Geldschuld in Höhe eines halben Jahresgehalts – wie man es auch heute hat, wenn man sich einen bescheidenen Mittelklassewagen neu anschafft. Dann kann man den Rückzahlungs- und Zinsverpflichtungen nicht nachkommen, und die Betreibung beginnt. Die Rechtsmittel, Bussen und Strafen nehmen ihren Lauf, und am Ende kann selbst heute noch eine Gefängnisstrafe stehen. Alles vollkommen normal und auf diese Weise auch notwendig. Ohne diese Rechtsmittel und Sicherheiten für den Gläubiger würde unser ganzes Bank- und Kreditwesen – am Ende auch zum Vorteil von Schuldnern, die sich Geld leihen wollen – nicht funktionieren.

Was in den Schriften steht

Plötzlich sehen Sie diesen ganz normalen und alltäglichen Rechtsfall mit anderen Augen, nämlich wenn Sie den Text schon ab der ersten Szene (Mt 18,23–27) lesen: Hier geht es ganz anders zu, die Geldschuld wird – überraschend für alle – erlassen. Das wirft ein neues Licht auf den «Normalfall» aus der zweiten Szene.

Die geschuldete Summe, 10  000 Talente, ist unvorstellbar hoch, 600  000-mal grösser als die 100 Denare, von denen oben die Rede war; wir reden also von ca. 300 Jahresgehältern. Als eine Privatschuld erscheint diese Summe vollkommen unrealistisch. Wenn überhaupt ein realer Hintergrund gedacht werden kann, dann handelt es sich um einen Finanzsklaven mit dem Auftrag, in bestimmten Gebieten für den König Geld einzutreiben. Die Summe wäre kein Darlehen, sondern die Steuerforderung des Königs. In jedem Fall ist der Sklave für dieses Geld verantwortlich und erhält durch diesen Erlass die Verantwortung abgenommen.

Die unrealistisch hohe Summe kann aber auch einen Hinweis geben, dass es sich um eine mehrsinnige Geschichte handelt, wie es ja die Einleitung schon nahelegt: «Mit dem Himmelreich ist es deshalb wie mit (folgender Erzählung von) einem König» (Mt 18,23).1 Die «Anwendung» der Erzählung, die sich allerdings nur auf die dritte Szene bezieht und nicht die ganze Dynamik des Erzählten im Blick hat, macht diese andere Sinnebene explizit: «Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln» (Mt 18,35). Gott wird mit dem König verglichen, in der Tradition der Bibel Jesu ein gebräuchliches Bild für Gott. In seiner Berufungsvision sieht Jesaja Gott als König: «Meine Augen haben den König, YHWH der Heere, gesehen» (Jes 6,5). Oder später: «Ich bin YHWH, euer Heiliger, euer König, Israels Schöpfer» (Jes 43,15). Auch die Psalmen verwenden häufig dieses Bild: «YHWH ist König für immer und ewig» (Ps 10,16), «Gott ist König der ganzen Erde» (Ps 47,8), u. ä.

Auch der Sklave (Knecht) ist nicht nur eine Figur aus dem damals üblichen sozialen Umfeld, sondern beschreibt den Menschen in Bezug auf Gott, den einzelnen Frommen («Behüte deinen Knecht auch vor vermessenen Menschen», Ps 19,14; «dein Knecht Abraham», Ex 32,13), das ganze Volk («Du, mein Knecht Israel», Jes 41,8) oder auch die Propheten («Du bist Gott in Israel, ich bin dein Knecht und tue all das in deinem Auftrag 1 Kön 18,36).

Das Gleichnis zeigt, wie sich die Menschen mit Blick auf Gott zu verhalten haben. In diesem Sinne ist diese erste Szene ein Beispiel für die grundsätzliche Frage, an die das Gleichnis angehängt ist. Was der König macht, ist die Anwendung 77-maligen Vergebens. Dies macht Gott an uns vor, und jetzt wird der ganze Undank klar, der in dem «Normalfall» der zweiten Szene liegt.

Damit ergibt sich aber für die dritte Szene (Mt 18,31–34) ein Problem mit dem Gottesbild: Kann Gott wirklich so sein, dass er seine Vergebung zurücknimmt? Ist es so, dass wir 77-mal vergeben sollen, Gott selbst aber nur einmal vergibt? Die einzige Sünde, die nicht vergeben werden kann, besteht offenbar darin, anderen nicht zu vergeben.

Mit Matthäus im Gespräch

Gerne würde ich Matthäus fragen, warum er das Bild der Sklaverei so unvoreingenommen verwendet. Nach jüdischem Recht war Folter doch verboten, und eine Schuldhaft kommt im jüdischen Recht nicht vor. Da ist Matthäus offensichtlich ganz ein Kind seiner Zeit, der die selbstverständlichen römischen Praktiken – z. B. der Beruf des manceps, der die Aufgaben hatte, Sklavinnen und Sklaven im Auftrag ihres Herrn zu foltern – als gegeben hinnahm.

Gravierender ist meine Frage an Matthäus, was dieser König, der in der Parabel für Gott steht, uns für ein Gottesbild vermittelt. Gott ist in diesem Bild ein allmächtiger Sklavenbesitzer, der seine Macht ausspielt und den Sklaven foltern lässt. Er wird selbst dem eigenen theologischen Anspruch aus Mt 18,21, 77-mal zu vergeben, nicht gerecht, sondern wird zum Vertreter einer brutalen Pädagogik, der dem Menschen nur eine Chance gibt.

Dieses für unsere Ohren durchaus anstössige Gottesbild – aber ich denke, wir müssen damit leben und uns damit auseinandersetzen, dass uns in der Bibel Gott nicht nur so begegnet, wie wir ihn gerne hätten, sondern er darf uns in seiner Anstössigkeit herausfordern, wie wir die Botschaft vom eschachtologischen Gericht in nicht-gewaltsamen Bildern umsetzen wollen – kann man vielleicht auch so deuten: Solange wir Menschen uns zueinander «normal» verhalten wie in der zweiten Szene und selbstverständlich Schulden einfordern und Betreibungen veranlassen, verhält sich auch Gott «normal», nämlich als allmächtiger Gott. Er kann aber auch anders, nämlich grenzenlos vergebend sein (Szene 1), und fordert uns heraus, das auch zu tun.

Spannend ist für mich auch die weitere Frage an Matthäus, was er meinte, mit wem wir Leserinnen und Leser uns identifizieren sollen. Sollen wir uns mit dem ersten Sklaven identifizieren und den moralischen Anspruch an ihn, unseren Mitmenschen auch zu vergeben? Damit haben wir aber auch die Angst, bei Versagen der endzeitlichen Folter zu verfallen (vgl. V.  34).

Spannend ist der Gedanke, sich mit dem zweiten Sklaven zu identifizieren, die astronomisch hohe Schuldsumme des ersten Sklaven ist ausserhalb jeder Vorstellungskraft für uns. Der zweite Sklave, der Kleine, ist uns näher. Er wird erbarmungslos behandelt von dem «Mitknecht», der als «Steuersklave» selbst einen Teil der Verantwortung des Königs mitträgt. Assoziiert werden könnten heute da Kirchenmänner; sie wirken auf besondere Weise am Königreich dieses Gottes mit, sie haben auf besondere Weise von Gott Erbarmen erfahren und Barmherzigkeit als Gut anvertraut bekommen, von diesem grossen Gnadenschatz aber nur bruchstückhaft an die ihnen Anvertrauten weitergegeben. Ich muss da immer wieder als Beispiel an den offiziellen kirchlichen Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen denken. Das unbarmherzige Verhalten des Königs am Ende wird ein solcher zweiter Sklave dann nicht als anstössiges Gottesbild empfinden, sondern als Hoffnung, dass Gott selbst diesen König ablöst und die gerechte Welt des Reiches Gottes anbricht.